„Hochfahren“ (Regina Polak)

Warum bezeichnen wir die Rückkehr zur Gestaltung unserer Lebensbereiche mit einem Wort aus der Sphäre der Technik?

Das Wort bereitet mir Unbehagen, seit ich es das erste Mal gehört habe: hochfahren. Wir fahren die Wirtschaft wieder hoch. Wir fahren Österreich wieder hoch. Wann werden die Schulen hochgefahren?

Normalerweise werden Computer hochgefahren. Ein Wort aus dem Bereich der Technik wird also als Metapher auf einen Bereich menschlicher Lebenswelt übertragen.

Hochfahren bedeutet auch erschreckt oder zornig aufspringen. Beim Bild des Hochfahrens eines Systems verwandelt sich ein intransitives in ein transitives Verb, eine Tätigkeit, die für sich selbst steht, bedarf durch diese Wandlung eines Objektes.

Mechanisierende Sprache

Mir fallen dazu die philologischen Studien des deutsch-jüdischen Romanisten Viktor Klemperer ein. Während der NS-Herrschaft verfasste er Tagebuchaufzeichnungen, in denen er die Sprache des Dritten Reiches analysierte; später wurden daraus seine Studien zur „Lingua tertii Imperii“. Da er aufgrund seiner Ehe mit einer evangelischen Christin der Deportation entrinnen konnte, konnte er zumindest in seinem Zuhause an diesen überaus spannenden Sprachstudien arbeiten.

Aus der Fülle der Merkmale der Sprache eines totalen politischen Systems seien hier einige seiner Beobachtungen aufgeführt. So beobachtete Klemperer, dass die Nazis einige „Lieblingswörter“ hatten, darunter „organisieren“, „inszenieren“, „unproduktiv“, „Wende“ und „Umbruch“. Das Verschwinden einer poetischen Sprache fiel ihm ebenso auf wie die Dominanz von naturwissenschaftlichen Erklärungen menschlichen Verhaltens. Und dann beobachtete er auch das Übertragen technischen Vokabulars auf menschliches Verhalten und Lebenszusammenhänge. Er sprach von einer „mechanisierenden“ Sprache: gleichschalten, ankurbeln, auslasten, auf Touren bringen. Er beobachtete, dass zahlreiche intransitive Wörter in Transitiva verwandelt wurden: Alles musste aktiv werden, auf etwas bezogen werden, ein Ziel, ein Objekt haben. Es galt das „Gesetz des Handelns“: „Er flog das Gemüse.“ Fliegen allein war nicht genug.

Heute sprechen wir davon, dass wir etwas „abspeichern“ müssen, wenn wir etwas nicht vergessen wollen; dass wir etwas „auf dem Schirm“ haben, wenn wir etwas vor Augen haben; und die „Performance“ bzw. „Inszenierung“ von Politik steht in den Analysen von Politikforschern oft mehr im Zentrum als deren Inhalte.

Selbstoptimierung zum neuen, starken Menschen

Nun bedeutet dies NICHT, dass wir heute wie Nazis sprechen. Diese Interpretation schließe ich dezidiert aus. Ebenso leben wir nicht in einem totalitären politischen Regime.

Die Nazis hatten in ihrer Ideologie so gut wie nichts neu erfunden, sie konnten auf Ideen wie die Rassenideologie, den Antisemitismus, den Darwinismus zurückgreifen, die in Deutschland und Österreich schon längst das Denken beherrschten, allem voran das wissenschaftliche Denken. Neu war genau genommen nur die Umsetzung dieser Ideologien in eine totale Machtpraxis. Im Zentrum dieser Ideen stand – seit dem Beginn der Moderne – die radikale Selbstoptimierung des Menschen. Der neue, starke und mächtige Mensch sollte geschaffen werden – mit den Mitteln der Wissenschaft, der Wirtschaft, der Technik und der Politik.

Worin also besteht dann der Erkenntnisgewinn dieser Erinnerung an Viktor Klemperers Sprachanalyse?

Die beiden jüdischen Denker Vilém Flusser und Zygmunt Bauman zeigten, dass diese Idee von der Selbstoptimierung nach dem Ende des Nazi-Regimes keinesfalls aus den Weltsichten der Menschen verschwunden waren und bis heute weiterwirken. Die Vorstellung von der Optimierung des Menschen und seiner Lebensverhältnisse ist nicht zu Ende. In dem kleinen Wort „hochfahren“ steckt sie drin. Dahinter das tiefe Erschrecken, wie rasch selbst ein so reicher Wohlfahrtstaat wie Österreich in eine veritable Wirtschaftskrise geraten kann, ganz zu schweigen von den sozialen, kulturellen, psychischen Verwerfungen. Die Praxis gegen die Ohnmacht: Hochfahren.

Also: Die Wirtschaft hochfahren. Soziale, ökonomische, politische, menschliche Zusammenhänge, die wir derzeit in ihrer Verletzbarkeit schmerzhaft erleben, werden mit dem Neustart eines Computers verglichen. Welche Folgen hat das? Welches Weltbild bringt sich darin zum Ausdruck? In welchem Verhältnis stehen die, die die Wirtschaft, die Schule und ein Land hochfahren, zu diesen? Sind sie deren Herrscher? Techniker? Benützer? Haben Wirtschaft, Schule, Österreich, quasi ein von uns unabhängiges Eigenleben – so wie mein Computer, der nach seinen eigenen Programmen läuft und dessen Logik ich folgen muss, wenn ich etwas ändern will? Wie groß ist der Handlungsspielraum beim „Hochfahren“? Wie groß ist die Freiheit beim Drücken des „Restart“-knopfes? Wer darf drücken, wer nicht? Oder dienen wir der Wirtschaft, der Schule, Österreich? Was tun wir, wenn wir einkaufen gehen, wenn wir unser Unternehmen wieder öffnen, wenn wir unseren Sommerurlaub buchen? Sind wir Rädchen im Getriebe eines Systems, das hochgefahren wird? Oder Maschinenantreiber? Oder der Akku?

Sprache schafft Wirklichkeit

Zur Theologie gehört die Sensibilität gegenüber der Sprache. Die Genesis erzählt uns, dass Gott durch das Wort die Schöpfung erschafft. Das Wort ist eine Tat. Indem wir als Abbild Gottes sprechen, haben wir Teil an diesem Schöpfungswerk Gottes. Sprache schafft Wirklichkeit. Sprache formt aber auch unsere Wahrnehmung von Wirklichkeit. Der Raum unserer Sprache ist der Raum unseres Wahrnehmens und Denkens. Wofür wir keine Sprache (mehr) haben, das können wir auch nicht (mehr) wahrnehmen und denken.

Viktor Klemperer hat auch beobachtet, dass in der NS-Zeit schrittweise sogar Menschen, von denen er wusste, dass sie den Nationalsozialismus ablehnten, diese Sprache übernahmen. Sie vergaßen gleichsam ihre alten Worte. Auch das schwächte ihre Immunität gegenüber dem Nazi-Wahn, schwächte den Widerstand. Es fehlten die Worte zu beschreiben, was wirklich passierte.

Noch einmal: Wir leben nicht in der NS-Zeit. Aber dass wir die Tatsache, schrittweise wieder handeln und unsere Lebenswelten in Wirtschaft, Schule, Österreich bewusst gestalten zu können, mit dem Wort „hochfahren“ bezeichnen, macht mich doch sehr nachdenklich.

Bildquelle: Pixabay

Veröffentlicht von Praktische Theologie

Institut für Praktische Theologie Katholisch-Theologische Fakultät Universität Wien Schenkenstrasse 8-10 1010 Wien c/o Assoc.-Prof. Dr. Regina Polak, MAS (Admin)

2 Kommentare zu „„Hochfahren“ (Regina Polak)

  1. Liebe Regina Polak, vielen Dank, dass du deine Überlegungen teilst. Ich komme mit dem „System hochfahren“-Ding auch nur bedingt klar. Aus Familien-/Home office-Perspektive frage ich mich zudem, was bitte hochgefahren wird, wenn schon alles im Maximalmodus rennt. Da wäre ich dann doch eher für den Ecomode in bäldiger Zukunft, um in der IT-Sprache zu bleiben. Sprich Zurückfahren vom (alten und eh schon längst überholten) System und statt dessen neue, nachhaltige Ideen für Soziales, Familie(n) und Wirtschaft.

    Das mit der NS-Analogie habe ich mir so noch nicht überlegt, wohl aber hatte sich bei mir dieses Unbehagen bereits beim gerne gebrauchten Begriff „Helden an der Front“ und somit einer direkten Kriegsmetaphernverwendung eingestellt. Ja, ein Theologiestudium macht wohl besonders sensibel für Unheilworte.
    Weil du die Schöpfung einbringst und ich auch ein ausgewiesen großer Fan von Hannah Arendts Natalitätsdenken bin: wie wäre es mit einem Neubeginn? Neue, kreative Ideen und good old feminist thinking könnten uns jetzt wirklich aus der Patsche helfen, finde ich.

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