Woraus beziehen Menschen in westlichen Gesellschaften ihren Selbstwert und ihre kulturelle Identität? Diese Fragen sind wichtig, denn die Antworten darauf wirken sich auf unseren Umgang mit dem Tod aus. Dieser wurde mit Corona wieder ins öffentliche Bewusstsein katapultiert. Regina Polak fragt, was das theologisch bedeuten könnte.
„Bitte beantworten Sie folgende Fragen: Beschreiben Sie kurz die Gefühle, die der Gedanke an Ihren eigenen Tod in Ihnen hervorruft. 2. Schreiben Sie so genau wie möglich nieder, was mit Ihnen geschehen wird, wenn Sie sterben, und was mit Ihnen passiert, wenn Sie gestorben sind.“
Diese beiden Fragen waren Teil eines Persönlichkeits-Fragebogens, den die Sozialpsychologen Sheldon Salomon, Jeff Greenberg und Tom Pyszczynski eine Gruppe von Richtern ausfüllen ließen, ehe letztere das Urteil über eine junge Prostituierte fällten, die straffällig geworden war. Eine zweite Kontrollgruppe von Richtern füllte denselben Fragebogen aus, nur ohne diese beiden Fragen. Die Richter der Kontrollgruppe setzen eine Kaution in der Höhe von 50 Dollar fest. Die Richter hingegen, die kurz vorher an ihren Tod erinnert worden waren, verdonnerten die Frau zu einer mehr als neunfachen Kaution des üblichen Satzes, zu 455 Dollar.
Der Wurm in unserem Herzen
In ihrer sozialpsychologischen Studie „Der Wurm in unserem Herzen. Wie das Wissen um die Sterblichkeit unser Leben beeinflusst“ legen die Autoren eine Fülle an empirischen Belegen vor, wie das menschliche Bewusstsein für die Sterblichkeit sich in so gut wie allen Bereichen des menschlichen Lebens tiefgreifend auf unser Denken, Fühlen und Verhalten auswirkt – gleichgültig, ob dies bewusst oder unbewusst geschieht.
Dabei konnten Sie im wesentlichen zwei Faktoren identifizieren, die darüber entscheiden, ob die Angst vor dem Tod autoritäre Verhaltensweisen verstärkt oder mit Mitgefühl und Empathie verbunden ist: zum einen die Qualität unseres Selbstwertes und unserer Selbstachtung; zum anderen die Konsistenz unserer kulturellen und moralischen Identität. Menschen mit einem gesunden Selbstwertgefühl haben weniger Angst vor dem Tod und neigen im Fall von Todesgefahr weniger zu Rückzug, Ausflüchten und Scheuklappen, sondern gehen Probleme ohne Umschweife an. Ebenso haben Menschen, die sich mit dem eigenen Tod bereits im Rahmen ihrer kulturellen Werte vertieft auseinandergesetzt haben, weniger Angst vor dem Sterben.
Die Corona-Pandemie hat die Themen Sterben und Tod aus ihrer kulturellen Tabuisierung und Verdrängung in westlichen Gesellschaften mit einem Schlag an die Oberfläche katapultiert. Wohl sind wir permanent mit Toten konfrontiert: in Kino und Film, in den Medien, in Verkehrs- und Grippestastistiken, an den Grenzen Europas, wo jährlich tausende Flüchtlinge ertrinken. Aber das sind gewissermaßen die Tode der abstrakten, unsichtbaren Anderen. Sie lassen viele unberührt. Jetzt könnte es jeden treffen, auch mich und meine Liebsten.
Wie sind wir gesellschaftlich auf den Tod vorbereitet?
Wie steht es um den Selbstwert von Menschen in westlichen Gesellschaften?
In den Social Media – von Facebook bis Instagram – präsentieren die meisten Menschen sich von ihrer besten, selbstbewussten Seite. Für die Karriereplanung werden Selbstbewusstsein und Selbstdurchsetzung empfohlen. Aber öffentlich präsentiertes Selbstbewusstsein muss nicht mit Selbstwert und Selbstachtung ident sein. Selbstwert bedeutet, sich auch unabhängig von den eigenen Leistungen und Erfolgen zu mögen, die eigenen Schwächen, Fehler und Schuld annehmen zu können. Hinter einem selbstbewussten Auftritt kann sich durchaus ein schwacher Selbstwert verbergen.
In den vergangenen Jahren wurden Gesundheit, ein trainierter und schlanker Körper, ein gestyltes Äußeres zu einem zentralen gesellschaftlichen Wert, an dem man angeblich den Erfolg einer Person ablesen kann – inklusive der damit verbundenen Pflicht zur permanenten Selbstoptimierung. Ähnliches gilt für soziale, berufliche und Freizeitbiographien. Sind diese „erfolgreich“? Wer beim Streben nach diesen „Erfolgen“ nicht mitmachen kann oder will, gilt rasch als seltsam oder Mensch zweiter Klasse.
Corona und die zu erwartenden Folgen bringen dieses Wertesystem nicht nur ans Licht, sondern auch ins Wanken. Derzeit führt die Angst vor dem Tod dazu, dass wir um der biologischen Gesundheit willen alles andere, was gutes Leben in einem umfassenden Sinn ausmacht, zu opfern bereit sind: soziales Leben, kulturelles Leben, ökonomisches Leben, Bildung und Religion. Pater Klaus Mertes stellt daher mit guten Gründen fest: „Wir kapitulieren vor dem Tod.“
Das soziale, geistige, religiöse Leben von Menschen – vor allem von alten und jungen Menschen – wird eingeschränkt, zumeist ohne sich zu überlegen, wie man die menschlichen, sozialen, kulturellen und politischen Folgeschäden dabei geringer halten kann. Viele Menschen fürchten sich vor dem öffentlichen Raum, voreinander, sie leben ein Leben auf der Bremse. Es herrscht die Angst vor dem Tod.
Diese Situation macht nicht nur sichtbar, auf wie dünnem Eis die Gesellschaft steht. Die Corona-Folgen werden den Wohlstand und die Möglichkeiten zur Selbstoptimierung einschränken: Wellness und Fitness-Center sind teuer und machen im Kontext einer halben Million Arbeitslosen wenig Freude, Arbeitslosigkeit und Zukunftsangst machen psychisch und physisch krank. Not und Leid werden sichtbar werden. Sind wir als Gesellschaft darauf vorbereitet?
Worin besteht unsere kulturelle Identität im Westen? In vielen europäischen Ländern werden internationale Vernetzungen eingeschränkt und nationale Identitäten wieder attraktiv. Wohlstand und Konsum sind weitere wesentliche Identity-Marker. Die „Mitte-Studie“ der Universität Leipzig hat bereits 2014 gezeigt, dass der westliche Wohlstand, der nach 1945 in einer Gewaltanstrengung erwirtschaftet wurde, als eine Art „narzisstische Plombe“ angesichts der Verlusterfahrungen nach dem Zweiten Weltkrieg fungiert. Man hat sich gleichsam mit Konsum und Wirtschaftswachstum getröstet. Eine Plombe, die bereits in der Folge der Finanzkrise 2008 brüchig wurde und den Autoritarismus bis hinein in die Mittelschicht reaktivierte. Was wird geschehen, wenn der Wohlstand durch die Corona-Folgen weiter sinkt?
Der Philosoph Giorgio Agamben wiederum hat darauf hingewiesen, dass „das nackte Leben und die Angst, es zu verlieren, das letzte Gut und die einzige Wahrheit sei, die unsere Gesellschaft noch verbinden – oder besser: nicht verbinden“.
Das klingt harsch und übertrieben. Aber würde eine gesamte Gesellschaft, die ganze Welt für einen anderen Wert als dieses nackte Leben – z.B. die ökologische Wende – bereit sein, so viel zu opfern? Sind Sicherheit und Gesundheit tatsächlich die einzigen universalen Werte?
Ich bin geliebt – vor aller Leistung, trotz aller Schuld, in allem Leid
Religion bietet immer auch Antworten auf die Fragen nach Selbstwert und Identität. Auch der christliche Glaube. Das bedeutet nicht, dass Christinnen und Christen vollkommen aus diesen Quellen leben. Sie sind von den kulturellen Werten der Gesellschaft, in der sie leben, zutiefst geprägt. Diese „Antworten“ beschreiben daher ein Ideal, einen eschatologischen Horizont.
Allerdings: Diese Antworten sind keine Theorien oder normative Ideale, Sie sind keine Antworten wie die Antworten auf die Frage nach der Uhrzeit oder dem Treffpunkt. Sie erschließen ihren Sinn erst im Kontext von Praxis und Erfahrung. Man kann sie nicht einfach verkünden, verordnen und wie einen Zuckerguss über die zeitgenössischen Selbstwert- und Identitätskrisen gießen.
„Jeder einzelne Mensch ist so, wie er ist, von Gott angenommen und geliebt – vor aller Leistung, trotz aller Schuld, in allem Leid und Scheitern.“ Das ist eine solche „Antwort“, genauer: eine Glaubenserfahrung, aus der man Selbstwert und Identität beziehen kann – in jeder Gesellschaft und Kultur. Eine Art transnationale Identität, die jedem Menschen zugesprochen ist. (Und empirisch sind wir erst am Anfang zu begreifen, was das in einer globalisierten Welt konkret bedeutet.)
Das Volk Israel hat diese „Glaubenswahrheit“ erlebt, als es im ungeliebten Exil in Babylon lebte und ihm Heimkehr aus der Fremde verheißen wurde: „Sie her: Ich habe Dich eingezeichnet in meine Hände!“ (Jes 49, 16).
Paulus, gedrängt von der Liebe Christi, erkennt im Sohn Gottes das „Ja zu allem, was Gott verheißen hat“ (1 Kor 1, 20). Die Auferstehung Christi nimmt dem Tod den Stachel.
Aber Paulus weiß auch, dass dieses unbedingte Ja Gottes zum Menschen keine harmlose Idylle bezeichnet. Man kann den Glauben daran nicht normativ verordnen, denn dieses Ja zum Menschen ist keine Idee, sondern basiert auf der Erfahrung des bedingungslosen Geliebt-Werdens. Wo lässt sich solches erfahren? Wenn es unter Menschen selten zu erfahren ist, wie soll man es dann von Gott glauben?
Es geht auch nicht nur um individuelle Gefühle. Es geht um die fundamentale Erfahrung der Befreiung durch Gott aus allem, was das Leben einengt, bedroht, zerstört – bis zum Tod und über diesen hinaus. Es geht um die Erfahrung, dass Gott alles annimmt, was den Menschen ausmacht. Dann kann selbst der Tod seinen Schrecken verlieren. Es braucht Mut, sich auf einen solchen Glauben einzulassen.
Deshalb ermutigt Paulus auch dazu: „Lasst Euch mit Gott versöhnen!“ (2 Kor 5,20).
Ein solcher Versöhnungsprozess mit Gott kann befreien. In und mit Gott lernt man, dessen Liebe und sich selbst anzunehmen. Wenn mein Selbstwert und meine Identität in Gott verankert sind, kann mir niemand und nichts meine Würde nehmen oder mich mit meiner Angst vor dem Tod erpressen. Damit ist die Angst vor dem Tod nicht aufgehoben. Ebenso wenig verschwinden Zweifel, Leid und Tod. Aber sie haben nicht das letzte Wort.
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