Paul Zulehner, emeritierter Professor für Pastoraltheologie am Institut für Praktische Theologie, stellt sich bange die Frage, ob wir tatsächlich etwas aus der Krise lernen werden. In der Online-Vortragsreihe „In Zeiten wie diesen“ der Pädagogischen Hochschule Oberösterreich wird er am 18. Juni 2020, 18 Uhr zu den Fragen, die uns in Frage stellen, einen Vortrag halten (Anmeldung ab 15 Uhr hier).
Das Buch hat derzeit Hochkonjunktur. Radio FM4 hat den Roman in einer Marathonlesung der Nation präsentiert. Gelesen haben 120 Mitbürger*innen, darunter Prominente wie Klaus Maria Brandauer, Birgit Minichmayr, Elfriede Jelinek, aber auch Altbundespräsident Heinz Fischer oder Christoph Kardinal Schönborn. Es ist die Pest von Albert Camus. In seinem 1947 veröffentlichten Werk beschreibt er, wie in der algerischen Stadt Oran „in den 194…“ die tödliche Seuche ausbricht.
Der Bestseller ist zwar eine hintergründige Auseinandersetzung mit Krieg und Naziterror. In seiner erzählerischen Oberfläche bietet er jedoch ein Lehrstück für den Umgang einer Gesellschaft mit einer hereingebrochenen Seuche. Er zeigt eine Stadt inmitten von Bedrohung und Todesangst, das Zusammenspiel zwischen dem Arzt Rieux und den politisch Verantwortlichen in der Stadt und in der Zentralregierung. Auch ein Journalist namens Rambert spielt eine wichtige Rolle. Nun hat der Philosoph Rudolf Burger in einem Gespräch in der Sendung Orientierung am 26.4.2020 darauf hingewiesen, dass sich die Pest und Covid-19 nicht einfach vergleichen lassen. Wen die Pest befiel, der starb mit höchster Wahrscheinlichkeit. Wer sich derzeit mit dem Coronavirus infiziert, überlebt mit höchster Wahrscheinlichkeit, zählt der Erkrankte nicht zu einer Risikogruppe. Bei aller Unvergleichlichtkeit: In einem Punkt wird es leider Ähnlichkeit geben.
Ein junger Mann namens Tarrou ist Nachbar des Arztes Rieux. Er ist politisch engagiert und gründet mit Freiwilligen eine Schutzgruppe gegen die Infektion. Beide hören sie eine Predigt des Jesuitenpaters Paneloux. Sie diskutieren die optimistische Annahme des Predigers [ich zitiere Camus] „dass die Pest auch ihr Gutes hat, dass sie die Augen öffnet, dass sie zum Denken zwingt!“[1] Camus zerstreut solche Hoffnungen. Den Arzt Rieux lässt er sagen: „Was für die Übel dieser Welt gilt, das gilt auch für die Pest. Das kann ein paar wenigen dazu verhelfen, grösser zu werden.“
Sollten wir, die wir uns heute in diesem Blog gemeinsam Gedanken machen, am Ende zu den „paar wenigen“ zählen, die in Covid-19 eine Lektion für das Land und die Weltgemeinschaft sehen? Haben wir dabei nicht gar viele unverbesserliche Optimisten auf unserer Seite, die uns vollmundig zurufen: Wir müssen „die Krise als Chance nützen!“? Bange frage ich mit Camus dagegen an: Wird die Welt, werden wir selbst in dieser Zeit wirklich etwas lernen?
Matthias Horx vom Zukunftsinstitut meinte unlängst, dass dies der Fall sein werde. Er stellte im Netz seine „Re-gnose“ über eine „Welt nach Corona“ vor. Die derzeitige „Tiefenkrise“ werde dazu führen, dass zukunftsträchtige Entwicklungen früher als sonst einsetzen werden. Es werde mehr Homeoffice geben. Die Betriebe brauchten nicht mehr so viel Raum für ihre Mitarbeitenden. Die Umwelt könne aufatmen, weil Videokonferenzen Flugreisen ersetzten.
Ganz anders sozialkritische Weltverbesserer: Anders als der wirtschaftshofierte Zukunftsforscher sehen diese das Ende des herrschenden Kapitalismus und Neoliberalismus kommen. Die Menschen würden sich auf Werte besinnen, die in der durchökonomisierten Kultur verloren gegangenen seien: Familie, Freundschaft, Kunst und freie Zeit würden das Leben morgen prägen. Der Mensch erhalte wieder Vorrang vor dem Profit.
Als in Camus‘ Roman die Pest zu Ende gegangen war, feierten die Überlebenden überschwänglich. Und – was man versteht und was zugleich bedrückt – sie machten dort weiter, wo die Pest ihr eingespieltes Leben unterbrochen hatte. Ähnliches geschah bereits nach der mittelalterlichen Pest: Auf sie folgte in Wien das lebenslustige und keinesfalls prüde katholische Barock. Es braucht also schon ein gehöriges Maß an kontrafaktischen historischem Optimismus, dass die derzeitige Krise für die Welt eine Chance sein werde. Im Grunde können wir jetzt gar nicht wissen, ob sich in unserer Welt in der Zeit danach etwas zum Besseren wenden wird. Denn noch leben wir in der Zwischenzeit. Die Krise ist längst nicht vorüber. Solange kein Impfstoff oder ein wirksames Medikament gefunden sind, haben wir auf der Hut zu sein.
Immerhin ist es aber in diesem liminal space, wie die Mystiker solche Zwischenzeiten nennen, möglich, ein paar sich immer deutlicher abzeichnende Fragen zu präzisieren und zu entfalten. Auf gesicherte Antworten werden wir freilich noch länger warten müssen. Und wie es sich für einen guten Blog gehört, schließe ich mit einer Frage an Sie als Leserin und Leser: Welche Fragen stellen sich Ihnen?
[1] Camus, Albert: Die Pest, Taschenbuchausgabe Rowohlt, Reinbeck 1997, 42.
Paul M. Zulehner ist Professor emeritus am Institut für Praktische Theologie.
Zur Online-Vorlesungsreihe der PH OÖ (u.a. mit Gerald Hüther, Stefan Schulmeister, Kathrin Steiner-Hämmerle) geht es hier.