Zu den Ambivalenzen rund um Berührungsverbote und Demaskierungen in Zeiten der Corona-Krise macht sich unsere Gastautorin Marie-Theres Igrec Gedanken. Werden wir die enthüllten Schwachstellen der Gesellschaft wahrnehmen und daraus lernen – oder wieder maskieren?
„Noli me tangere“ – fass mich nicht an – so die berühmten, theologisch viel besprochenen Worte des auferstandenen Christus vor dem leeren Grab zu Maria Magdalena in der Überlieferung des Johannesevangeliums. Sie hatten einen seltsam vertrauten Klang diese Worte am Ostermorgen 2020, am Höhepunkt der Coronakrise, mitten in einer Zeit der täglich eingeschärften Parole des Abstand-Haltens. Dabei fielen auch andere Parallelen auf zwischen der gegenwärtigen Lage und den Ereignissen im Jerusalem längst vergangener Tage. Auch damals befanden sich die Protagonisten der Geschichte, die Anhänger Jesu, in Selbstisolation, zu der sie zwar nicht die Angst vor einem Virus, sondern vor politischer und religiöser Verfolgung bewegt hatte. Auch ihre Welt war, durch den gewaltsamen Tod des ersehnten Heilbringers, aus den Fugen geraten. Was geschehen war, war noch nicht zu fassen. Denn was diese größte Krise an der Wiege des Christentums, bibelwissenschaftlich gern auch als Ostergraben bezeichnet, bedeuten konnte, das war zwingend auf Interpretation angewiesen.
Was Krisen allgemein so an sich haben, das wird in der gegenwärtigen Situation gut ansichtig. Sie sind voller Ambivalenzen, sie legen Dinge offen, die in der Betriebsamkeit und geläufigen Normalität des Alltags meist verdeckt bleiben und sie bergen durchaus das Potential, nach gebührender Reflexion und Aufarbeitung, eine Neubesinnung auf das Wesentliche und neue Aufbrüche zu ermöglichen. Im Folgenden sollen fragmentarisch einige Beobachtungen zu den gegenwärtigen Geschehnissen festgehalten werden.
Zwischen Berührbarkeit und Berührungsverbot
Eine Ambivalenz, die in der gegenwärtigen Krise besonders deutlich hervortritt, liegt im Spannungsfeld des Berührungsverbotes selbst. Zur Beschränkung sozialer Kontakte angehalten, einer gewöhnungsbedürftigen Anonymität und Uniformität durch Maskenpflicht ausgesetzt, ist die Zeit der vordergründigen Berührungslosigkeit und verordneten Distanz gleichzeitig zu einer Zeit der besonderen Berührbarkeit, ja der Entblößung und Distanzlosigkeit geworden. Diese Paradoxie ist auf vielen Ebenen spürbar. So ist oder war der physische Kontakt nicht nur zu Freunden und Großeltern, sondern auch zu Menschen im dienstlichen Umfeld unterbunden. Gleichzeitig sitzen LehrerInnen, Arbeitskollegen, Vorgesetzte „digital“ in unseren Kinder- und Wohnzimmern, werden Kommunikationskanäle genutzt, die sonst privaten Kontakten vorbehalten sind und ist die sonst meist streng reglementierte zeitliche und örtliche Trennung des dienstlichen und des privaten Bereichs durcheinandergeraten. Schon das Wort „Homeoffice“ kann für viele als Sinnbild für die Paradoxie herangezogen werden. Die ver-rückte Normalität, das wurde schnell deutlich, birgt Vor- und Nachteile, deren Verteilung je nach individueller Situation sehr unterschiedlich ausfällt. Während entfallene Wegzeiten und flexibel gewordene Arbeitszeiten für die einen effizienteres und entspannteres Arbeiten bedeutet, wurde die fehlende Distanz zwischen „Home“ und „Office“ für andere zu einer nur schwer zu bewältigenden Belastungsprobe.
Bemerkenswert ist, dass die Krise sich gegenwärtig in einer Zeit fortgeschrittener Digitalisierung von Kommunikationsprozessen ereignet, sie uns gewissermaßen hineinkatapultiert in ein Zukunftsszenario, für das sich Bildungsstätten schon lange rüsten. Der erzwungene Digitalisierungsschub, der natürlich gegenwärtig häufig improvisiert abläuft und zurzeit wenig Anspruch auf Perfektion hegt, hat auch zahlreiche Schwachstellen der Virtualisierung der sozialen Interaktion offengelegt und daher viele Fragen evoziert:
Welche Bedeutung gewinnt die Frage nach körperlicher Präsenz in Kommunikations-, erst recht in Bildungsprozessen? Wo kann gut auf sie verzichtet werden, wo ist sie unabdingbar? Was geht verloren mit einem Verlust an Körperlichkeit? Vor allem aber auch: Wer wird unerreichbar, unfassbar in diesen Prozessen, weil er oder sie nicht teilnehmen kann/ darf/ soll am digitalen Kommunikationstisch, weil finanzielle Mittel, Kompetenz oder Einladung fehlen?
Die besondere Berührbarkeit, die in den letzten Wochen evident wurde, war vor allem der Natur der Krise geschuldet. Auch wenn in Österreich die Lage glücklicherweise nicht so dramatisch wurde wie in vielen anderen europäischen Ländern, so dominieren dennoch Betroffenheit durch die Kenntnis von persönlichen Schicksalen und kollabierenden Gesundheitssystemen in Nachbarländern, die Angst um das eigene Wohlergehen und das Nahestehender, die Verunsicherung angesichts von ins Wanken geratenen Strukturen, die Sorge um den Arbeitsplatz oder das wirtschaftliche Überleben, nicht zu vergessen die soziale Isolation vieler Menschen das allgemeine Stimmungsbild. Hier werden nun, insbesondere da Arbeitsstätten und Schulen schrittweise wieder öffnen, höchstpersönliche intime Emotionen und psychische Dispositionen in die Öffentlichkeit getragen. Unter der NMS-Maske, wird die Maske des öffentlichen, des dienstlichen Auftretens, hinter der sonst das private Seelenleben verborgen bleibt, brüchig. Das Konfliktpotential dieser Exponiertheit ist absehbar. Die fundamentale Störung der privaten, der öffentlichen, der gesellschaftlichen Ordnung durch die aktuelle Krise, das für viele unvorhersehbare Eintreten des Unfassbaren, hat die Verletzlichkeit des Menschen und seiner sozialen Interaktion auf brutale Weise offengelegt. Die nun sehr offenkundige Verletzlichkeit hat an vielen Orten zu beeindruckenden Werken großmütiger Menschlichkeit inspirieren konnte, solidarisches Handeln gestärkt und den Blick für besonders Gefährdete in der Gesellschaft geöffnet. Anderorts hingegen sind Menschen aus dem Blick geraten, weil die Grenzen zwischen Eigenem und Fremdem dichter und undurchlässiger wurden, ist die Bereitschaft zu vorschnellem Urteilen gestiegen und wurden reale Verletzungen im sozialen und zwischenmenschlichen Austausch zugefügt.
Erstrebenswert könnte sein, nach der Krise die Berührbarkeit zu erhalten, die aus manchen Abstumpfungen geführt hat und einen Zuwachs an Humanität entfachen konnte und gleichzeitig auch wieder Abstand zu gewinnen, um globale Zusammenhänge wieder ins Sichtfeld zu rücken und besonnen mit erlittenen Verletzungen und verwundeten Vertrauensverhältnissen umgehen zu können.
Demaskierung
Entblößt worden sind in der Krise, die zwar von gemeinsamer Gefährdung, von solidarischer Verbundenheit und Sorge füreinander gekennzeichnet war und ist, auch die gravierenden sozialen Unterschiede und viele neuralgische Schwachpunkte in der Gesellschaft. Die Prekarität von unzähligen Arbeitsplätzen, die Beengtheit vieler Wohnsituationen, die Fragilität des Gesundheitssystems und Überlastung der dort Beschäftigten, die Untragbarkeit vieler Pflegesituationen, einzementierte geschlechtliche Rollenbilder und die nach wie vor gegebene große Chancenungleichheit im Bildungssystem sind, um nur einige wenige beim Namen zu nennen, Schwachstellen und Wunden im gesellschaftlichen Zusammenleben und seiner strukturellen Verankerung, die in den vergangenen Wochen in den Vordergrund getreten sind. Was die Krise tatsächlich bedeuten wird, das wird sich durch ihre Interpretation und dem Umgang mit den Dingen, die sie offengelegt hat, weisen.
Wird der ersehnte Schritt hin zu einer alten oder neuen Normalität, das Ablegen der Mund-Nasen-Schutzmasken, heißen, dass die offenkundig gewordenen Schwachstellen wieder maskiert werden oder kann die Krise zur Lerngelegenheit für Gesellschaft und ihre besonders betroffenen Orte werden? Sollte letzteres nicht der Fall sein, wäre viel verspielt.
Marie-Theres Igrec ist Fundamentaltheologin und wissenschaftliche Assistentin am erzbischöflichen Amt für Schule und Bildung in Wien.