Wähle das Leben (Dt 30,19) (Willy Weisz)

Eine jüdische Perspektive auf die Frage, wie man über die Herausforderungen durch den Corona-Virus nachdenken kann, bietet unser Gastautor Dr. Willy Weisz, der Vizepräsident des Koordinierungsausschuss für christlich-jüdische Zusammenarbeit. Der Rekurs auf die Torah steht dabei bei ihm im Zentrum.

Wird man um eine Stellungnahme gefragt, so ist es gute jüdische Tradition, nachzuforschen, ob man sich bei der eigenen Aussage auf bereits Gesagtes oder Geschriebenes berufen kann. Je älter das Zitat desto höher ist die Wertigkeit der dadurch unterstützten eigenen Meinung – eine gute Strategie gegen die Tendenz zu plagiieren.

Auf die Anfrage, für einen Blog, der im Zeichen des das Leben und die Gesundheit bedrohenden Corona-Virus steht, einen Beitrag zu liefern, folgt also sofort ein Blick in die Torah (Pentateuch). Und da steht es ja: „wähle das Leben“ (Dt 30,19). Aber wie vorgehen? Hilft uns das Umfeld dieser Textstelle weiter? Mal sehen: „Siehe ich habe heute vor dich gegeben das Leben und das Gute, den Tod und das Böse. Was ich dir heute gebiete, den Ewigen, deinen G’tt, zu lieben, in Seinen Wegen zu wandeln, Seine Gebote, Seine Satzungen und Seine Rechtsvorschriften zu wahren, und du wirst leben und dich mehren.“ (Dt 30,15-16). Aha, das Befolgen der G’ttlichen Vorschriften und das Leben hängen zusammen. Geht es noch etwas schlüssiger?

In Leviticus lesen wir: „Und wahret Meine Satzungen und Meine Rechtsvorschriften, die der Mensch ausführt und durch sie lebt“ (Lv 18,5). G’ttes Vorschriften sind also ein Schutzschild gegen unnötiges frühzeitiges Ableben. Und wo finden wir etwas zu Corona Passendes?

Das allererste Pessach, eine erste Nacht der Selbstisolation – und heuer

Exodus 12,3-13 berichtet über die Vorschriften des Ewigen für die Juden in Ägypten bezüglich der 14 Tage vor dem Auszug: die Bereitstellung eines einjährigen Lamms pro Haushalt am 10. Tag, die Schlachtung am 14. Tag, die Kennzeichnung eines jüdischen Heims durch Aufbringen des Tierbluts am Türrahmen und das nächtliche Essen des gebratenen Tiers zusammen mit ungesäuerten Broten (Matzot) und Bitterkraut. In jener Nacht wird der Todesengel über Ägypten kommen und nur die gekennzeichneten Häuser überschreiten (hebräisch: passach) und unbehelligt lassen.

Und Moses erlässt noch eine weitere Vorschrift: Die Juden dürfen das Haus in dieser Nacht bis zum Morgen nicht verlassen, um der Seuche nicht anheim zu fallen (Ex 12,22). Also eine von Menschen erlassene Verordnung zur Sicherung des Überlebens (mehr dazu später).

An diese erste Pessach-Nacht wurden wir heuer stark erinnert. Seit Aussetzen des Opferdienstes nach der Zerstörung des Tempels zu Jerusalem wurde der Seder, die Feier am Abend, der den ersten Tag einleitet (außerhalb Israels auch am zweiten Abend), zum zentralen Element des Beginns der Pessach-Feiertage. Am Familientisch mit mehreren Generationen und eventuell auch mit Freunden und anderen Gästen wird über den Auszug aus Ägypten und spätere Ereignisse gelesen, gesungen, diskutiert; G’ttes Lob wird angestimmt. Auch im größeren Rahmen von Gemeinden oder für Reisegruppen in speziell für Pessach vorbereiteten Hotels wird der Seder veranstaltet. Im Zentrum steht immer, das Interesse der Kinder zu wecken, sie zu Fragen zu animieren, die dann von den älteren Generationen beantwortet werden.

Doch heuer war alles anders: Die Isolation bewirkte, dass am Tisch der Großeltern die Enkel und deren Eltern fehlten. Die Fragen der Kinder wurden von denen gestellt, die sie auch beantworteten. Aber wie zur Zeit des Auszugs aus Ägypten galt auch heuer: dem Leben und der Gesundheit Vorrang einräumen und nicht an Seder-Feiern außer Haus teilnehmen.

Erweiterung der G’ttlichen Gesetze durch Menschen, eine Anmaßung?

In Ex. 12,12-13 informiert G’tt die Juden durch Moses, dass Er in der Nacht vom 14. auf den 15. des Frühlingsmonats die Erstgeborenen Ägyptens töten, dabei aber die gekennzeichneten Häuser der Juden verschonen wird. Man sollte annehmen, dass alle daraus die einzig richtige Konsequenz gezogen hätten. Doch Moses kannte seine Zeitgenossen besser und hat daher verstanden, dass er noch die explizite Vorschrift, die Häuser nicht zu verlassen, erlassen musste. Klingt in den Corona-Tagen irgendwie bekannt.

Ist es jedoch nicht anmaßend, dass ein Mensch G’ttliche Vorschriften korrigierend erweitert? In Gen 1,27 lesen wir „G’tt schuf den Menschen in Seinem Bild, im Bild G’ttes schuf er ihn“. Was heißt „im Bild G’ttes“? G’tt ist der Ewige, der Mensch ist endlich. Einen Hinweis gibt Gen 3,22-23, nachdem Adam und Eva von den verbotenen Früchten gegessen hatten: „Und der Ewige, G’tt, sagte: Da, der Mensch wurde wie unser einer, zu erkennen gut von böse; nun, bevor er seine Hand ausstreckt zu nehmen vom Baum des Lebens, und ewig lebt. Und der Ewige, G’tt, verwies sie des Garten Eden“ Der Mensch hat sich durch diesen Ungehorsam die G’ttliche Fähigkeit des Wissens angeeignet, und zwar durch Erkennen, dem laufenden Wissenserwerb, nicht als bereits Allwissender. Das „Bild Mensch“ kann wie in der Mathematik als Projektion des unendlich-dimensionalen „G’ttlichen Urbilds“ auf die endliche Dimensionalität unserer realen Welt verstanden werden. Durch solch eine Projektion kann eine Eigenschaft auch zu nur einem dimensionslosen Punkt abgebildet werden, also im Bild nicht mehr wirksam sein (z.B. ewig existieren).

Es gibt jedoch auch Bilder, die – wenn auch nicht eins-zu-eins – die Struktur des Abgebildeten wiedergeben. Das Erlassen von Gesetzen und Vorschriften, die dem Schutz des Lebens dienen, sind so ein Abbild dessen, was G’tt mit Seinen Vorschriften den Menschen für ein lebenswertes Umfeld vorgegeben hat; und es ist erlaubt.

Grundrechte einschränken?

Schon während der Anstiegsphase der Corona-Virus-Infektionen gab es und erst recht jetzt, während des vorläufigen Rückgangs, gibt es Beschwerden, dass die verordneten Beschränkungen in den verschiedensten Bereichen die Menschenrechte auf Freiheit der Bewegung, der Berufsausübung und der Religionsausübung, um nur einige zu nennen, einschränken und daher verfassungswidrig sind. Ein Blick auf die Resolution 217 A(III) der UNO Generalversammlung vom 10. Dezember 1948 über die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“ gibt eindeutig die Prioritäten vor: Der 3. Artikel – noch vor der Auflistung anderer individuelle Rechte – lautet: „Jeder hat das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person“. Die dabei angesprochene „Freiheit“ ist nicht die auf Kosten von Mitmenschen ausgeübte.

Die geforderten Freizügigkeiten für die Berufsausübung und Zusammenkünfte sind zwar wichtig für ein gesundes Leben des Einzelnen wie der Gesellschaft, jedoch können sie nur ausgeübt werden, wenn Menschen leben und gesund sind. Und die biblische Forderung nach Nächstenliebe: „Erweise Liebe deinem Gegenüber“ (Lev 19, 18) – meist grammatikalisch und etymologisch falsch übersetzt als „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ – bedeutet, dass jeder bei seinen Handlungen auch für das Wohl derjenigen, die um ihn sind, zu sorgen hat und nicht alle Freiheiten, nach denen es ihm gelüstet, für sich geltend macht.

Die Einschränkung von Grundrechten muss natürlich eine eingebaute Begrenzung auf die Zeit der Bedrohung haben.

Wegweiser auch für heute

Auch für die Frage, ob schnell das Wichtige tun oder Regeln für formal richtiges Handeln zu priorisieren sind, finden wir eine Antwort: „Wir werden tun und wir werden hören“ heißt es in Ex 24,7. „Alles, was der Ewige gesagt hat, wollen wir tun und hören“. Die unerwartete Abfolge der Zeitworte „tun“ und „hören“ hat diverse Erklärungen hervorgebracht. Eine davon interpretiert „hören“ als „ergründen“; die erforderliche Tat, wie wir sie gerade verstehen, ist vorrangig, danach können wir darüber nachdenken, wie wir in Zukunft besser handeln können. Diese Erkenntnis sei denjenigen ins Stammbuch geschrieben, die bei aller Anerkennung, dass die Einschränkungen notwendig waren, um zu verhindern, dass wie andernorts die Überlastung des Gesundheitssystems zur tödlichen Falle wird, die erlassenen Vorschriften wegen eventuell vorhandener Abweichungen von der reinen Rechtslehre hinterfragen und damit jene bestärken, die die Corona-Gefahr zur Gänze leugnen.

Der Blick in die Bibel hilft also auch heute noch, so manche kritische Situation zu meistern.

Bildquelle: Falco auf pixabay

Veröffentlicht von Praktische Theologie

Institut für Praktische Theologie Katholisch-Theologische Fakultät Universität Wien Schenkenstrasse 8-10 1010 Wien c/o Assoc.-Prof. Dr. Regina Polak, MAS (Admin)

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