Wie wir die Krise der Covid-19 Pandemie lösen werden, hängt wesentlich von deren Wahrnehmung und Deutung ab. Denn keine Krise ist ein objektiv vorliegendes Faktum. Regina Polak macht sich Gedanken zur Hermeneutik der Krise.
Die einen wollen sie „bewältigen“, bis es eine Impfung gibt. Andere sehen eine globale Katastrophe auf uns zukommen, in der sich wirtschaftliche Rezession, politische Hegemoniekämpfe und humanitäre Krisen verschränken und sogar zu bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen führen werden. Wieder andere sehen die Stunde gekommen, endlich die alternativen ökonomischen und ökologischen Visionen umzusetzen, für die sie sich seit Jahrzehnten einsetzen. Und so mancher Zeitgenosse, manche Zeitgenossin – sofern er bzw. sie die eigene Arbeit in der Krise nicht verloren hat – ist der Ansicht, dass das Schlimmste vorbei ist, wenn er, sie wieder ins Kino gehen und auf Urlaub fliegen kann.
Je nach Perspektive endet die Krise, wenn die Impfung da ist, das BIP wieder in Ordnung, die globalen Armutszahlen wieder gesunken, die ökologische Transformation vollzogen oder das Kino wieder offen ist.
Wie wir die Covid19-Pandemie wahrnehmen, hängt also eng mit unseren Vorstellungen von „Welt“ und „Wirklichkeit“, von Weltanschauung und unserer Transzendenzspannweite zusammen. Enden die Grenzen meiner Welt in meinem soziokulturellen Milieu, an der österreichischen Grenze oder habe ich eine globale Perspektive? Betrachte ich die Welt aus einer religiösen oder einer säkularen Perspektive? Welche Werte haben in meiner Einschätzung Priorität – und zwar nicht nur als theoretisches Lippenbekenntnis, sondern so, dass sie in meinem Handeln sichtbar werden?
Covid19-Krise: Kein objektives Faktum, sondern denk-würdig
Die Covid19-Krise ist jedenfalls kein objektiv vorliegendes Faktum, dessen Ausmaß oder Ende man an den Zahlen der am Virus Verstorbenen oder am Bruttonationalprodukt ablesen könnte. Solches Denken wäre platter positivistischer Materialismus. Der Mensch ist fähig und verpflichtet, die von ihm vorgefundene Realität zu transzendieren. Die Philosophin Hannah Arendt hat in ihrer Schrift „Was ist Denken?“ solches Transzendieren Denken genannt. Neben dem Transzendieren gehören dazu auch sich konkret vorstellen können, was das eigene Gerede in der Praxis für andere bedeutet; zweifeln; fragen; unterscheiden.
Freilich sind Menschen in ihrem Denken durch ihren jeweiligen biographischen und historischen, sozialen und kulturellen Kontext ebenso geprägt wie durch die jeweils politisch und medial dominanten Diskurse. Aber aus der Sicht einer christlichen Ethik sind sie immer auch frei. Sie müssen sich diesen Prägungen nicht ergeben, sie können sie reflektieren und transzendieren. Leider erwecken die in Politik, Gesellschaft und Medien aktuell dominanten Lösungsstrategien nicht eben einen transzendenten Eindruck. Es herrscht der Geist der Technokratie, der seinen Erfolg im Kampf gegen die Krise an Daten und Zahlen bemisst. Kunst, Kultur, Philosophie, Ethik oder Religionsgemeinschaften kommen als Partner des Nachdenkens in Expertenzirkeln, aber im öffentlichen Raum vergleichsweise wenig in den Blick oder schließen sich durch Schweigen selbst aus.
Drei Typen von Krisen
Die Covid-19 Krise kann auf sehr verschiedene Weise wahrgenommen werden. Der Historiker Jörn Rüsen hat in einer Krisentypologie drei verschiedene Arten von Krisen unterschieden. Inspiriert von seinen Überlegungen können wir uns mit Blick auf die Krise, die die Covid19-Pandemie mit sich bringt, fragen:
- Betrachtet man die Covid-19-Krise als eine einfache Systemstörung? Das Ziel der Krisenbewältigung bestünde dann darin, mit den dem System bekannten Mitteln die vertraute, bekannte Ordnung wiederherzustellen.
- Wird die Covid19-Krise als Lernort wahrgenommen? Dann würde man erkennen, dass zur Lösung der Krise die traditionellen Instrumente nicht ausreichen und das System Neues lernen muss. Die Krise birgt also in dieser Sicht die Notwendigkeit oder Möglichkeit, neue, bisher unbekannte Lösungsmöglichkeiten zu entwickeln. Sie gilt als beendet, wenn das System dazu gelernt hat. Das System selbst bleibt in der gleichen inneren Logik, hat aber gleichsam seinen Horizont erweitert.
- Sind Paradigmenwechsel notwendig? Die Krise kann ein System auch dermaßen stark erschüttern, dass dessen innere Ordnungsparadigmen selbst zur Disposition stehen. Die alten Paradigmen taugen nicht mehr, um die Krise zu deuten und zu lösen (z.B. das nationalstaatliche Paradigma, auf das derzeit auch Österreich zurückgreift; vielleicht auch in den Ländern Lateinamerikas und Afrikas). Eine solche Krise stellte zum Beispiel der Zweite Weltkrieg dar, der es nötig und möglich machte, die Europäische Union zu gründen und deren Rechte und Werte politisch durchzusetzen. Die Schoah wiederum führte dazu, dass sich die Einstellungen der katholischen und evangelischen Kirche zu den Juden verändern mussten. Der Antijudaismus als inneres Ordnungsprinzip christlicher Theologie wurde sichtbar und beendet (zumindest lehramtlich und theologisch).
Strategie, Partizipation, Demokratiestärkung
Meiner Wahrnehmung nach lassen sich aktuell alle drei Typen von Krisenhermeneutik wahrnehmen. Welche sich davon durchsetzen wird, vermag ich nicht zu prognostizieren. Dazu fehlen mir repräsentative empirischen Grundlagen für die Wahrnehmungs- und Werteverschiebungen in der Bevölkerung – national und erst recht global. Ich kenne jedenfalls Menschen, die die Ideen einer Paradigmen transformierenden Krise nur müde belächeln. Ich kenne Menschen, die absolut davon überzeugt sind, dass jetzt endlich die ökologische oder digitale Wende kommen wird. Und ich kenne Menschen, denen das Krisen-Gerede schon sehr auf die Nerven geht. In jedem Fall werden sich die Auswirkungen der Krise erst im Lauf der Zeit zeigen – ähnlich wie bei der globalen Finanzkrise 2008, die die soziale Ungleichheit intensiviert hat, den Mittelstand in Europa gespalten und zum Aufstieg des Rechtspopulismus geführt hat.
Ich weiß nicht, welche Sicht auf die Krise, geschweige denn, welche Lösungen sich durchsetzen werden. Ich bin mir aber ziemlich sicher, dass es in den kommenden Jahren heftige nationale, internationale und globale Kämpfe um Deutungshoheiten und die Durchsetzung von Einzelinteressen geben wird. Die damit verbundenen Konflikte sind normal und auch notwendig. Aber wenn wir wollen, dass diese Diskurse und Konflikte nicht ausschließlich im Modus zerstörerischer Konkurrenz stattfinden sollen, wo es am Ende triumphierende Sieger und gedemütigte Verlierer gibt, sollten wir uns Prozesse überlegen, wie wir diese Krise tatsächlich zum Lernort werden können lassen. Wir brauchen Strategien, die internationale Kooperation und Solidarität fördern. Wir benötigen unzählige öffentliche Räume und Vernetzungen zwischen den verschiedenen Institutionen der Gesellschaft, sowie die Stärkung von Partizipation und demokratischen Prozessen. Dafür müssen national und international vor allem die (leider derzeit ziemlich phantasielosen) politischen Entscheidungsträger gewonnen werden.
Krise: Normalfall christlicher Existenz
Als Christin machen mir Krisen zum einen riesige, zum anderen wenig Angst. Sie machen mir wenig Angst, weil die Texte der Heiligen Schrift nahezu durchgängig im Kontext von Katastrophen und Krisen verfasst wurden. Krisen sind quasi der christliche „Normalfall“. Der Glaube der Bibel ist mitten in Leid, Not, Armut und Elend entstanden. Krisenzeiten scheinen sogar mitunter die theologisch produktivsten Zeiten gewesen zu sein. Juden und Jüdinnen, Christen und Christinnen haben in Krisen das Glauben gelernt.
Dabei finden wir in den Texten der Schrift alle Varianten der Krisenwahrnehmung. Die Sehnsucht nach der alten Ordnung ist da zu finden – die freilich in aller Regel enttäuscht wird, weil das Volk Gottes immer wieder zum Aufbruch gezwungen wird. Krisen werden durchgängig als Lernorte verstanden, weshalb dem Lernen auch ein zentraler, sogar religiöser Stellenwert zukommt. (Freilich jenes Lernen, das zur Verhaltensveränderung führt; nicht das Anhäufen von Qualifikationen und Stichpunkten im Lebenslauf).
Aber auch paradigmatische Umkehrbewegungen lassen sich beobachten. Es sind vor allem die Befreiungserfahrungen aus den großen Krisen des Exils und der Diaspora, die paradigmatisch Neues entdecken lassen. Dass nicht die Imperatoren, sondern Gott der Herr der Geschichte ist. Dass Gott transzendent und unverfügbar ist. Dass Arme und Marginalisierte Rechte haben und nicht nur vom Gutwill der Reichen abhängig sind. Dass es Rechte und Gerechtigkeit braucht, um die Freiheit des Menschen zu wahren. Dass die Perspektive der Opfer und Verlierer für den Verlauf der Geschichte heilsrelevant ist – nicht die der Helden, Sieger oder gar Täter. Dass ein Toter am Kreuz der Welt Rettung und Befreiung bringen kann.
All dies waren paradigmatische Innovationen gegenüber den herrschenden Paradigmen der Imperien (Ägypten, Babylon, Imperium Romanum), in denen der biblische Glaube entstand. Krisen und Katastrophen waren die „Quellen“ zu ihrer Erkenntnis.
Genau dieser Sachverhalt macht mir aber auch Angst. Denn es sieht mit Blick auf die biblischen Texte so aus, als würden notwendige paradigmatische Veränderungen immer erst dann möglich werden, wenn die Katastrophe ausgebrochen ist.
Niemand mit nur ein wenig historischer Kenntnis kann sich eine globale Katastrophe im Anschluss an die Corona-Pandemie wünschen, die uns zum Nachdenken animiert. Ist es möglich, dass Menschen ihr Verhalten nachhaltig auch dann verändern, noch ehe eine Katastrophe ausbricht – und wenn ja, dann wie? Die Klimakrise, die noch weitaus gefährlichere Auswirkungen haben wird, zwingt uns zu einer Suche nach Antworten auf diese Frage.
Bildquelle: Miroslava Chrienova auf Pixabay
Regina Polak ist Praktische Theologin und Vorstand des Instituts für Praktische Theologie der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien.