Mein lieber Herr Gebetsverein! (Florian Mayrhofer)

Wie sind die vielen Gebetsinitiativen rund um den Krieg in der Ukraine zu beurteilen? Im neuen Blogbeitrag formuliert Florian Mayrhofer eine Antwort auf kritische Einwände.

Angesichts des Kriegs in der Ukraine wurde uns deutlich vor Augen geführt, dass Friede kein selbstverständliches Gut ist. Neben den vielen Solidaritätsveranstaltungen der Zivilgesellschaft in Europa, formieren sich seit Beginn des Kriegs in vielen kirchlichen Gemeinden Initiativen zum Friedensgebet. Diese Beobachtung war für eine Berner Tageszeitung Anlass genug, dazu einen Bericht zu verfassen: „Für Frieden in der Ukraine. Immer mehr Leute treffen sich zum Gebet“. Auch der Twitter-User Fabian (@bininbern) wurde darauf aufmerksam und twitterte einen Screenshot der Headline und der ersten Zeilen des Berichts. Der Tweet vom 9. März war dabei mit einem Kommentar versehen, zwei Fragezeichen („??“), und zugleich hob Fabian noch zwei Formulierungen visuell hervor: „treffen sich zum Gebet“ und „nicht tatenlos zuschauen“.

Screenshot Twitter [9.3.2022]

Zwei Tätigkeiten, die sich – zumindest für Fabian – ausschließen und aus seiner Sicht die religiöse Heuchelei der Menschen vor Augen führt. Eine hitzige Diskussion zwischen der Pro- und Contra-Seite entspann sich auch in den Kommentaren.

„Thoughts and prayers funktionieren nicht!“

Was ist aber dran, an Fabians Kritik? Immerhin verweist er die Betenden mit seiner Kritik dorthin, wo sie sich selbst wohl nicht sehen würden: als Gebetsverein auf der Zuschauertribüne. Ganz anders im Übrigen, als er das für politische Demonstrationen sieht, wie er in der Diskussion in den Kommentaren ausführt: „Ich hätte jetzt einen Unterschied z.B. zwischen einer politischen Demo, wie vor 10 Tagen in Bern gemacht, bei der konkret Sanktionen verlangt werden und einem Gebet für Frieden. Thoughts and prayers haben schon in dem [sic!] USA nie funktioniert.“ Ist seine Kritik berechtigt? Laufen betende Gläubige Gefahr, es sich im beschützten Rahmen der Kirchen wohlig einzurichten und sich„tatenlos“  und naiv das Himmelreich à la „Friede, Friede, trallala“ herbei zu beten?

Beruhigung des Gewissens?

Eine ähnliche Kritik formulierte ab den 1970er Jahren bereits Johann Baptist Metz in seiner Politischen Theologie. Er warnte davor, dass Beten ohne Gerechtigkeitspraxis die Botschaft des Anbruchs der Gottesherrschaft zu einer leeren Worthülse verkommen lässt. Als „bürgerlich zahmes Privathobby oder gesellschaftlich neutrales Sinnstiftungsprojekt“1 würde das Evangelium seinen Kern und seine Radikalität verlieren. Denn so verstandenes Gebet dient bloß der Beruhigung des eigenen Gewissens – Marx und „Opium des Volks“2 lassen grüßen. Der Blick auf soziale Realitäten und eine Mitarbeit an einer besseren Welt würden dann gänzlich fehlen.

Welcher Gott?

Wer glaubt, Gott ließe sich durch Gebete wie durch magische Formeln beeinflussen, degradiert ihn zu einem Lückenbüßer-Gott, wie dies auch Bonhoeffer kritisierte.3 Gott ist dann einer, den die Menschen „aufmarschieren lassen entweder zur Scheinlösung unlösbarer Probleme oder als Kraft bei menschlichem Versagen, immer also in Ausnutzung menschlicher Schwäche bzw. an den menschlichen Grenzen.“4 Ist Gott der Vater in ‚der Papa wird’s schon richten‘, dann enthebt eine solche Vorstellung uns Menschen der geschichtlichen Verantwortung und unter dieser Bedingung trifft Fabians – genauso wie Metz‘ und Bonhoeffers – Kritik voll und ganz zu. Auf diese Weise ist Gott nicht mehr der ‚Immanuel – Gott mit uns‘, wie ihn der Propheten Jesaja nennt (7,14; 8,8‑10) und wie Jesus von Matthäus im Neuen Testament bezeichnet wird, sondern ein deus ex machina – ein ‚Gott aus der Maschine‘. Im Gegensatz zu Letzterem aber hört der ‚Gott mit uns‘ zwar die Gebete der Menschen, aber er lässt sich nicht einfach manipulieren.

Es gibt also gute Gründe, die Kritik Fabians theologisch nachvollziehbar zu machen. Bei genauerem Hinsehen haftet der Kritik Fabians allerdings auch ein blinder Fleck an.

Gebet ist mehr

Was Fabian übersieht, ist die Vielschichtigkeit, die Beten auszeichnet. Gebet ist mehr als die bloße Beruhigung des eigenen Gewissens oder das naive Sprechen einer Zauberformel.

Beten ist zunächst der Ausdruck für die eigene Ohnmacht angesichts einer komplexen Krise, wie sie der Krieg in der Ukraine darstellt. In Anbetracht dieser Ohnmachtserfahrung führt das Gebet vor Augen, dass der Mensch nicht allmächtig ist. Es gibt etwas Größeres als ich selbst. Für die Betenden ist damit auch eine Hoffnung verbunden: Es gibt auch etwas Größeres als die Kriegsmaschinerie, als die Nacht der Verzweiflung. Und: Mächtigen Kriegsherren wie Putin wird abgesprochen, Herren der Geschichte zu sein. Gebet ist so tiefer Ausdruck des Protests gegen Herrschaftsansprüche, Gewalt und Unrecht.

Lautstarker Protest

Die Kritik des Twitter-Users Fabian erinnert mich auch an eine Rede Albert Camus‘, die er 1948 im Dominikanerkloster von Latour-Maubourg gehalten hat. Dabei versuchte er auf die Frage zu antworten, was die Ungläubigen von den Christ*innen erwarten. Camus, der, wie er betont, der christlichen Wahrheit „nicht teilhaftig zu werden vermochte“5, hält in dieser beachtenswerten Rede zunächst fest, dass er von Christ*innen nur das einfordern könne, was ihm auch von jedem anderen Menschen einzufordern zusteht. Was teilt der Ungläubige dann mit den Christ*innen? Es ist „das Grauen vor dem Bösen.“6 Was erwartet der Ungläubige von ihnen? „[D]ass sie den Mund auftun, laut und deutlich, und ihre Verdammung ganz unmissverständlich aussprechen, damit nie auch nur der geringste Zweifel im Herzen des einfachsten Mannes zu keimen vermag; […].“7 Was Camus hier fordert, ist der laustarke Protest gegen die Absurdität des Bösen in der Welt. Die biblische Tradition weiß sich diesem Protest verbunden. In den Klage-Psalmen wie auch im Buch Ijob ist die Klage der Schrei zu Gott über die Ungerechtigkeit, die (scheinbare) Ausweglosigkeit und die Sinnlosigkeit des Leidens. Gebet ist daher auch Klage und Anklage des Leids der Unterdrückten, die selbst womöglich keine Kraft mehr dafür haben.

Bündnispartner im Handeln

Camus erwartet von Christ*innen noch mehr: „eine Vereinigung von Menschen, die gewillt sind, eine klare Sprache zu sprechen und sich mit ihrer Person einzusetzen, […] die entschlossen sind, den Preis zu zahlen, den es kostet, damit der Mensch mehr ist als der Hund.“8 Die erlebte Ohnmacht kann in vielen Fällen zur lähmenden Angst führen. Doch angesichts der Absurdität des Lebens ruft Camus die gläubigen Christ*innen auf, aus ihrer Schockstarre zu erwachen und zu jenen Bündnispartner*innen zu werden, die mit ihm gemeinsam gegen das Böse in der Welt aktiv ankämpfen. Er fordert sie auf, sich jener „Tugend der Auflehnung und der Empörung“ des Christentums zu besinnen, „die ihm vor langer Zeit eigen war.“9

Das Gebet hilft sich aus der lähmenden Fessel der Angst zu befreien, wieder klarer und deutlicher zu sehen. Es hilft einen Blick für das Notwendige und den eigenen Handlungsspielraum in der geforderten „Tugend der Auflehnung und Empörung“ zu entwickeln, insbesondere wenn die Gebetserfahrung in der Gruppe gemacht wird. Das Individuum fühlt sich hier getragen in einer Gemeinschaft, die an einer besseren Welt mitarbeiten will. Insofern verändert Gebet unseren Blick auf die Wirklichkeit und die innere Haltung, es transformiert Angst und Wut in neue Kraft zum Handeln.

Sowohl … als auch

Von diesem „sowohl … als auch“ von Gebet und sozialer Praxis sprechen im Übrigen auch die Konzilsväter des 2. Vatikanums, wenn sie in Gaudium et Spes „Vom Wesen des Friedens“ (GS 78) schreiben. Dies taten sie just in einer Zeit, in der sich – ähnlich zu heute – der Konflikt zwischen Ost und West zugespitzt hatte. Dabei betonen sie zum einen den Indikativ der Zusage, dass nämlich Gott den Frieden „in die menschliche Gesellschaft eingestiftet hat“. Sie vergessen aber auch nicht zu betonen, dass die Menschen deswegen aufgerufen sind, Frieden „durch stetes Streben nach immer vollkommenerer Gerechtigkeit [zu] verwirklich[en].“ (GS 78). Dazu benötigt es die „einsatzbereite[] und tätige[] Brüderlichkeit“, womit die Konzilsväter den Imperativ der biblischen Tradition ins Spiel bringen. Gebet muss praktische Konsequenzen haben und bleibt nicht beim Individuum selbst stehen.

Mehr als ein Gebetsverein

Zudem betonen die Konzilsväter, dass „Friede auch die Frucht der Liebe [ist], die über das hinausgeht, was die Gerechtigkeit zu leisten vermag“ (GS 78). Christ*innen wissen um die eigene, menschliche Beschränktheit und sind getragen von der Hoffnung auf den Immanuel – Gott mit uns. Das entledigt uns allerdings nicht des praktischen Einsatzes für den Frieden.

Theologisch gesprochen findet im Gebet Begegnung mit Gott statt. Diese innere Begegnung verändert und hat radikale Konsequenzen im Leben.10 Dem biblischen Indikativ der Zusage des Heils folgt dann die Praxis des Imperativs.11 Gebet und soziale Praxis sind aufs innerste miteinander verbunden. Dies übersieht Fabian in seiner plakativen Gegenüberstellung von ‚hier Gebet‘ – ‚dort Handeln‘. Camus, aber auch die kritische Anfrage Fabians erinnern uns, dass gelebtes Christentum angesichts des Gebets um Frieden mehr ist als ein bloß frommer Gebetsverein.

Beitragsbild: Ben White on Unsplash


1 Martin Dürnberger, Basics Systematischer Theologie. Eine Anleitung zum Nachdenken über den Glauben, Regensburg 2020, 176.

2 Karl Marx: Einleitung zu Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie; in: Deutsch-Französische Jahrbücher 1844, 71f.

3 Vgl. Dietrich Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, DBW Bd. 8, 407f.

4 Ebd.

5 Albert Camus, Der Ungläubige und die Christen, in: Ders., Fragen der Zeit (deutsch von Guide G. Meister. Rowohlt: Reinbek bei Hamburg, 1996, 65.

6 Ebd., 66.

7 Ebd. 67.

8 Ebd.

9 Ebd. 70.

10 Vgl. Paul Deselaers, Mystik. II. Biblisch-theologisch, in: Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 7, 2006, Sp. 586f.

11 Vgl. Bernhard McGinn: Mystik. III. Historisch-theologisch, in: Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 7, 2006, Sp. 587-593, hier: 588 und Dietmar Mieth: Mystik. IV. Systematisch-theologisch, in: Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 7, 2006, Sp. 593f.

Veröffentlicht von Florian Mayrhofer

ist Universitätsassistent (prae doc) am Institut für Praktische Theologie und promoviert im Fachbereich Religionspädagogik und Katechetik über den Zusammenhang von Digitalisierung und religiöser Bildung

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