Wie reagieren auf die zahlreichen Katastrophen, die uns derzeit ereilen? David Novakovits sucht nach einer Antwortmöglichkeit auch und gerade für Schüler*innen, von deren Zukunft hier die Rede ist.
Konfrontiert mit einem Nicht-Wissen, wie es weitergehen soll
In einem Artikel der Zeit spricht Bernd Ulrich von einer „schon seit Längerem nur noch mühsam aufrechterhaltene[n] Fiktion von Normalität“1, die in der Konfrontation mit den ‚multiplen Krisen‘, die wir derzeit erleben – von der Klimakrise, der Pandemie bis hin zum Artensterben und den vielen Kriegen zwischen Menschen – in sich zusammenbricht. Mein Eindruck ist es, dass sich aus vielen gesellschaftlichen Diskursen ablesen lässt, dass wir gerade „ein naives Verständnis von Krise“2 überwinden und sich mittlerweile das gesellschaftliche Bewusstsein derart umformt, dass klar wird: Ein billiges ‚Zurück zur Normalität‘ stellt nicht unbedingt einen zukunftseröffnenden Weg dar.
Wo jedoch Normalitäten implodieren, verschieben sich fundamentale Orientierungspunkte des Denkens, des Lebensstiles und des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Wenn das, was bisher gegolten hat, nicht mehr gilt, oder das, was bisher gegolten hat, als lebenszerstörerisch eingesehen wird (bzw. eingesehen werden muss), dann können wir – aus der Perspektive der Bildung gesprochen – von der Überführung von Wissen in Nicht-Wissen sprechen bzw. davon, dass bislang Vertrautes aufbricht und neu in den Blick kommen muss.
Das Aufwachsen in einer instabilen Welt – spürbar in den Klassenzimmern
Auswirkungen dieser tektonischen Verschiebungen in der kulturellen Landschaft der Gegenwart lassen sich auch noch in der geistigen Atmosphäre unserer Schulen spüren. Dabei nimmt das Bewusstsein, dass die Krisen ein Zeichen einer um sich greifenden Katastrophe sind, auch in den Klassenzimmern immer wieder konkrete Gestalt an. Um eine eigene, gänzlich subjektive (und doch vermutlich von vielen Lehrer*innen geteilte) Erfahrung einzuspielen: Ich beobachte, wie deutlich schwerer es mir im Moment fällt, in viele Schulkassen eine Atmosphäre mit-zuschaffen, die für Lehren und Lernen geeignet ist; oft habe ich den Eindruck, dass die Stimmung ‚grau‘ ist, dass ein ‚Tief‘ die Gemüter der Schüler*innen nach unten zieht; dass resignative Zwischentöne und –meldungen öfters als ‚normal‘ geäußert werden. Natürlich: Es ist schwer festzustellen, wie viel an dieser Beobachtung Projektion der eigenen Befindlichkeit ist; allerdings ist auch nur schwer vorstellbar, dass die eingangs erwähnten Krisen keine Spuren in den Leben der Heranwachsenden hinterlassen. Das „Aufwachsen in einer instabilen Welt“3 geht an den Kindern und Jugendlichen nicht spurlos vorüber, depressive Symptome und massive Ängste sind längst keine Einzelphänomene mehr, sondern massenhaft zu beobachten.4
Das (pädagogische) Problem, wenn Zukunft nur mehr als Katastrophe zur Sprache kommt
Die Frage, worauf religiöse Bildungsprozesse in Zeiten der Krisen Acht geben müssen, um jugendliche Schüler*innen gut zu unterstützen (d.h. zu stützen, aber auch herauszufordern), liegt auf der Hand. Ich möchte die Frage, welche Antworten hierauf gefunden werden können, nachfolgend lediglich mit einem Gedanken anreichern: Momentan denke ich, dass es vielleicht weniger darum gehen sollte, in einem (übertriebenen) Realitätssinn Zukunft den Heranwachsenden ständig als Katastrophe vorzustellen. Diese Aussage, Zukunft nicht als Katastrophe vorzustellen, mag missverständlich sein: Damit ist nicht gemeint, die Augen vor den Abgründen der Gegenwart zu verschließen, die gerade durch die Krisen ansichtig werden, den Kopf in den Sand zu stecken oder eine pädagogische Einstellung in etwa von ‚Augen zu und durch‘ bzw. ‚unterrichten wir einfach unsere Themen‘ zu unterstützen oder zu kultivieren. Die Zukunft nicht als Katastrophe vorzustellen meint zunächst nicht ein Verdrängen oder Verharmlosen der Krisen und ihrer Auswirkungen. Vielmehr geht es darum, das letzte Wort über das, was die Zukunft wirklich sein wird, nicht schon vorwegnehmend zu bestimmen.5 Wenn die Zukunft schon als vollendete Katastrophe gedacht und nur mehr in apokalyptische Grundtöne gefärbt wird, ist dies nicht nur Realitätssinn; ein solcher Zugang kann nicht nur den Effekt haben, Schüler*innen ‚aufzurütteln‘ und zur Auseinandersetzung mit einer Frage zu motivieren, sondern schlichtweg auch zu etwas anderem führen: Resignation.
Resignation als Zeichen jugendlicher Religiosität?
Wenn wir Religion – mit dem Philosophen William James – relativ weit als „die Gesamtreaktion eines Menschen auf das Leben“6 verstehen, dann kann auch das tiefe Gefühl der Resignation als religiöser Ausdruck Heranwachsender verstanden werden. Resignation als Zeichen jugendlicher Religiosität wahrzunehmen kann zunächst verwundern und zu Widerspruch verleiten; jedoch wird dadurch klarer, dass gerade auf diesem Feld religiöse Bildung derzeit gefordert ist: Religionslehrer*innen sind herausgefordert, nach Erzählungen und Erzähler*innen Ausschau zu halten, die gerade „wider die Resignation“7 ansprechen. Die Erzählungen der jüdischen und christlichen Tradition sind durchzogen von ‚gebrochenen Biografien‘ (H. Mendl), die immer wieder damit kämpfen, sich Kraft für das Dasein und das Weiterleben zu erstreiten. Vielleicht sind es diese Erzählungen, die gerade nun ‚an der Zeit‘ sind und bei Schüler*innen Ideen, Gedanken und Fragen hervorrufen können, welche die resignative Grundstimmung zu durchbrechen bzw. zu öffnen vermögen.
Das Öffnen des schon Abgeschlossenen
Damit soll zum Ausdruck kommen: Auch wenn die Diagnose der Katastrophe zwar richtig ist, so ist es vielleicht gerade in den Klassenzimmern jetzt im Moment richtiger, die Katastrophe nicht zum letzten Wort über das (gegenwärtige und zukünftige) Dasein, zum unausweichlichen Damoklesschwert über uns und zum feststehenden Schicksal der heranwachsenden Generation werden zu lassen. Denn dem Schicksal kann man sich nur (resignativ) ergeben; angesichts der Katastrophe als Schicksal wird Denken, Handeln, Lehren und Lernen nicht nur unmöglich, sondern auch unnötig. Anstatt die Parole ‚Katastrophe!‘ (moralisierend oder mitfühlend, selbst verzweifelnd oder verbittert) zu wiederholen, sind Lehrpersonen mit der schwierigen Aufgabe konfrontiert, immer wieder Öffnungen in die Atmosphären der Resignation zu schlagen. Entscheidend ist es dabei, in den Klassenzimmern eine Art religionspädagogischer ‚Selbst-Kastration‘ zu pflegen, und nicht das letzte Wort über die Bedeutung der Zukunft andauernd schon sagen zu wollen, d.h. sich einem abschließenden Urteil über die Zukunft von Welt zu enthalten. Das Nicht-Abschließen der Zukunft, das Offenlassen des letzten Wortes (und nicht ein immer-schon Bescheid-wissen) kann ein im Moment wichtiger Beitrag religiöser Bildung sein, der Schüler*innen dabei helfen kann, die Frage nach der Zukunft nicht-resignativ nochmals neu stellen zu wollen und im Austausch mit den Erzählungen der Vergangenheit selbst zu Wort zu kommen.
Dr. David Novakovits ist Post-doc Assistent am Institut für Praktische Theologie und Lehrer für Religion an einem Wiener Gymnasium.
Beitragsbild: Caleb Oquendo / Pexels
1 Bernd Ulrich, Sieben auf einen Streich, in: Die Zeit 13/2022, 4.
2 Ebd., 4.
3 Vgl. Artikel auf ORF.at vom 21.12.21, https://orf.at/stories/3240393/, aufgerufen am: 25.4.2022.
4 Vgl. Brigitte Quint, Kinderpsyche und Corona. Vom Gefühl, eine Gefahr zu sein, in: https://www.furche.at/gesellschaft/kinderpsyche-und-corona-vom-gefuehl-eine-gefahr-zu-sein-8248763, aufgerufen am: 25.4.2022.
5 Vgl. Eva Horn, Zukunft als Katastrophe, Berlin 2014.
6 William James, Die Vielfalt religiöser Erfahrung. Eine Studie über die menschliche Natur, Frankfurt a.M. 1997, 67.
7 Vgl. Lukas Pallitsch, Erzähler wider die Resignation: Joseph Roth, Stefan Zweig und Franz Werfel, in: Zeitschrift für christlich-jüdische Begegnung (1/2 2021), 66-74.