Die Krise der Menschenrechte und die Kirche. Eine Erinnerung an das 2. Vatikanische Konzil

Oskar Dangl

Inmitten der zahlreichen Krisen der Gegenwart sind auch die Menschenrechte in eine veritable Krise geraten, die eigentlich eine doppelte ist: Nicht nur die mangelnde Realisierung ist das Problem, sondern auch die normative Anerkennung der Menschenrechte ist in die Krise geraten. Sogar sich als christlich verstehende politische Parteien greifen die Menschenrechte in ihrem universalen Geltungsanspruch unverhohlen an. In diesem Kontext lohnt es sich vielleicht, nach der möglichen Rolle der Kirche zu fragen, in kritischer Erinnerung an das vor 60 Jahren eingeleitete 2. Vatikanische Konzil.

Ihre Begründungsoffenheit ermöglicht den Menschenrechten auch die religiöse Anschlussfähigkeit. Gerade für den strittigen universalen Geltungsanspruch der Menschenrechte ist der religiöse Ansatz von großem Belang. Geschichte und Gegenwart zeigen andererseits gleichermaßen, dass die Menschenrechte durch Religionen auch gefährdet werden. Religionsgemeinschaften neigen aufgrund ihres Dogmatismus dazu, den schwierigsten Gegner der Menschenrechtsidee zu begünstigen, nämlich den Relativismus: Sie erheben als Gemeinschaft den Anspruch auf kulturelle und religiöse Selbstbehauptung.

Wesentliche religiöse Impulse lassen sich aus vielfältigen biblischen Traditionen gewinnen. Vor allem die Gleichheit der Würde aller Menschen lässt sich aus den biblischen Traditionen ableiten. Der Allgemein-Charakter der Menschenrechte gründet in der Idee der Einheit des Menschengeschlechts. Die eine Menschheit ist eine biblische Denkfigur, die in die christliche Tradition eingegangen ist. Die christliche Welt war aber nie identisch mit der ganzen Welt. Die Aufklärung löste das Konzept Menschheit schließlich aus seiner christlichen Verankerung. Der Begriff des Menschen siegte über den des Christen. Damit werden Autonomie und Freiheit zum Grund der Menschenwürde und der Menschenrechte. Mit der Aufklärung wird die Phase des Konfessionalismus überwunden. War früher die Lehre der Kirche der absolute Maßstab, so tritt jetzt die menschliche Vernunft an ihre Stelle.

Theologie und Philosophie der Aufklärungszeit wurden vom römischen Lehramt als Verirrungen abgetan. Die kirchliche Antwort auf die verschiedenen Anstöße des 19. Jh. bestand in Ablehnung. Im „Syllabus Errorum“ (Pius IX. 1864) wurde sogar die Religionsfreiheit abgelehnt, weil sie dem Atheismus den Weg bahne.

Bis die christlichen Traditionen ihre Wirkung innerhalb der katholischen Kirche entfalten konnten, war ein weiter Weg in Form eines Lernprozesses zu gehen. Der Lernprozess der katholischen Kirche schlug sich erst im Vatikanum II (1962-1965) nieder. Das 2. Vatikanische Konzil kann als Ergebnis eines langwierigen und schwierigen Lernprozesses der katholischen Kirche im Anschluss an die Aufklärung gesehen werden. In „Gaudium et spes“ werden Menschenwürde und Menschenrechte nicht mehr als Gefahren für die Kirche gesehen. Ausgangspunkt der theologischen Begründung der Menschenrechte ist die Gottebenbildlichkeit. Mit dem Menschenbild des Vatikanum II hat die Kirche wieder zurückgefunden zum biblischen Menschenbild.

Die weitere Entwicklung in der katholischen Kirche seit dem 2. Vatikanischen Konzil entspreche aber nicht diesen Grundlagen, meinen zumindest viele kritische Stimmen. Reformbedürftig sei vor allem das geltende Kirchenrecht, weil es gegen die Menschenrechte verstoße, die auch innerhalb der Kirche Geltung beanspruchen können. Statt dessen werden sie in der kirchlichen Soziallehre niedergelegt, die sich als Lehre der Kirche an die Völker und Staaten der Welt richtet, von der Kirche selbst aber nicht als ihr Maßstab genommen wird.

Dringend nötig sei vor allem eine kirchliche Verfassung, zu der es bisher trotz der grundlegenden Ansätze im Kontext des II. Vatikanums nicht gekommen ist. Im Rahmen einer solchen ausstehenden kirchlichen Verfassung sollten auch Grund- und Menschenrechte als innerhalb der katholischen Kirche geltend anerkannt werden, was bisher nicht geschah.

Die biblischen Grundlagen für eine menschenrechtskonforme Kirchenverfassung wären jedenfalls gegeben in Gestalt des Dekalogs (Ex 20; Dtn 5) und seiner Konkretisierung vor allem in der deuteronomischen Einzeltora (Dtn 12-26).

Gerade die biblische Spurensuche führt ohne Umschweife zu den grundlegenden menschenrechtlichen Prinzipien und einzelnen Menschenrechten, die sich in aktuellen Menschenrechtserklärungen finden. Eine theologische Besinnung auf die normativen Grundlagen der biblischen Traditionen täte nicht nur der Kirche gut, sondern der ganzen Welt. Durch theoretische Anerkennung und praktische Realisierung der Menschenrechte im kirchlichen Binnenraum könnte die Kirche zum „sacramentum mundi“, zum leuchtenden Vorbild der Völker und Staaten werden, das die „Völkerwallfahrt“ auslöst, von der Jesaja schon träumte, wie uns die Lesung zum 1. Adventsonntag erzählte (Jes 2,1-5). Damit wäre nicht nur die Krise der Menschenrechte beendet, sondern auch das Ende der Kriege gekommen, in denen die Menschenrechte mit Füßen getreten werden.

Oskar Dangl, Prof. i.R., Lehrbeauftragter an der Hochschule für Agrar- und Umweltpädagogik und Referent in der kirchlichen Erwachsenenbildung.


Bildquelle: Text des Artikels 1 der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte an der Außenwand des österreichischen Parlamentsgebäudes in Wien; https://commons.wikimedia.org/wiki/User:Mabit1

Veröffentlicht von Praktische Theologie

Institut für Praktische Theologie Katholisch-Theologische Fakultät Universität Wien Schenkenstrasse 8-10 1010 Wien c/o Assoc.-Prof. Dr. Regina Polak, MAS (Admin)

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