Patrick Rohs
Unsere Reihe „ausErlesen“ wird mit einem Beitrag von Patrick Rohs, Projektmitarbeiter im Forschungsverbund für Interdisziplinäre Werteforschung, weitergeführt. Seine Überlegungen zu Psalm 8 zeigen, wie die biblische Anthropologie die sozialwissenschaftliche Forschung zu Werten prägen kann.
Die Bibel bietet einen reichhaltigen und vielfältigen Fundus an verschiedenen Themen und Textgattungen, die ihrerseits Anknüpfungspunkte für die eigene theologische Forschung darstellen können. Manches spricht uns augenblicklich beim ersten Lesen (oder Hören) an und regt zum intensiveren Nachdenken über Gott, Mensch und Welt an. Andere Stellen erscheinen uns vielleicht eher schwer verständlich, bisweilen sogar widerspenstig und erschließen sich möglicherweise erst zu einem späteren Zeitpunkt tiefer und umfassender, etwa durch wiederholte meditierende Betrachtung oder durch den Austausch mit anderen Menschen. Eine solche vertiefende Erschließung ist auch der Bibel selbst nicht fremd, werden doch in ihr vielfach theologisch besonders markante Motive, also Stellen mit theologisch starken Aussagen, die jeder Theologie eine entsprechende Kontur zu geben vermögen, aufgegriffen, weitergeführt, reflektiert und auf den eigenen Kontext hin neu ausgelegt. Damit bieten sich auch für moderne Leserinnen und Leser Anknüpfungspunkte, um immer wieder innezuhalten und zu bedenken, was sich im biblischen Text für mich persönlich, aber auch für uns als Kirche, als Gesellschaft zeigt – und welche Konsequenzen daraus erwachsen, wenn der biblische Text ernstgenommen wird.
Ein grundlegendes theologisches Motiv
Ein grundlegendes theologisches Motiv ist dasjenige der Schöpfung, das natürlich am Anfang des Alten Testaments in den beiden Schöpfungsberichten (Gen 1-2) breit entfaltet wird und in bildhafter Sprache zentrale Elemente der biblischen Anthropologie zur Sprache bringt. Das Schöpfungsmotiv wird aber dann auch an vielen anderen alt- und neutestamentlichen Stellen der Heiligen Schrift aufgegriffen, reflektiert, weitergedacht und zur Anwendung gebracht. Auch in der Gegenwart ist die Berufung auf die Schöpfung ein wichtiger Anknüpfungspunkt in ganz unterschiedlichen Kontexten. Kurz gesagt beinhalten die Schöpfungstexte die wichtigsten Elemente des biblischen Menschenbildes – und damit des Verständnisses vom Menschen als solchen: Demnach verdankt sich der Mensch – als Allgemeinbegriff vor jeglicher Ausdifferenzierung umfasst dies jeden Menschen! – dem schöpferischen Wirken Gottes. Er ist also ein aus Erde gebildetes Geschöpf, das jedoch als gottebenbildlich bezeichnet wird, und auf Beziehung zu seinem Schöpfer, aber auch zu den Mitmenschen hin angelegt ist. Mit Freiheit und Würde ausgestattet, hat er den Auftrag, mit der von Gott anvertrauten Schöpfung (die auch die Mitmenschen einschließt) verantwortungsvoll umzugehen.
Menschenbild und Schöpfung
Für mich stellt dieses grundlegende theologische Motiv der biblischen Anthropologie eine wichtige Weichenstellung dar, die im Grunde für jedes weitere Theologietreiben, für jede Rede von Gott und Mensch eine Richtung vorgibt, die als solche unhintergehbar ist. Es gibt daher gewissermaßen eine Metaebene für jede (christliche) Theologie ab, indem das Menschenbild expliziert wird, auf dem alles weitere aufbaut. Zwar mögen uns das Schöpfungsmotiv und die biblische Vorstellung vom Menschen aufgrund der regelmäßigen Bezugnahmen hierauf häufig selbstverständlich erscheinen, dennoch kann es von Zeit zu Zeit hilfreich sein, einen Schritt zurückzutreten und gerade die selbstverständlich scheinenden Texte und Motive erneut in den Blick zu nehmen und genauer zu betrachten – insbesondere, wenn es sich um ein biblisch so bedeutsames und zentrales Motiv wie das von Anthropologie und Schöpfung handelt.
Der Mensch – über- und unterschätzt
Gleichzeitig kann festgehalten werden, dass es sich hier um ein wichtiges Differenzmerkmal handelt im Vergleich zu anderen Weltanschauungen und Positionen. So bin ich etwa im Rahmen meines Zweitstudiums der Psychologie oftmals mit anderen Vorstellungen des Menschen konfrontiert, die häufig eher als funktionalistisch bezeichnet werden können, zum Beispiel im Kontext von Nudging oder anderen Maßnahmen zur Verhaltenssteuerung. Auch angesichts moderner Entwicklungen, die den Menschen und seine Fähigkeiten entweder maßlos überschätzen (Fortschrittsglaube und Machbarkeitsideologien) oder im Gegenteil geringschätzen (etwa bestimmte philosophische Strömungen im Umfeld von Tier- oder Medizinethik sowie naturwissenschaftliche Positionen rund um KI), wirkt das biblische Menschenbild in der Spannung zwischen den verschiedenen Polen, Größe und Würde einerseits, aber auch Hinfälligkeit und Anfälligkeit andererseits, wohltuend realistisch, ohne die genannte Spannung einseitig aufzulösen.
„Was ist der Mensch?“
Besonders gut kommt das meines Erachtens im Psalm 8 zum Ausdruck, der die Stellung des Menschen in einem Gebet nachzuvollziehen versucht. In einer betend-meditativen Relecture von Gen 1,1-2,4a (des sogenannten ersten Schöpfungsberichts) versucht der Beter tastend das Geheimnis des Menschen in Worte zu fassen. Von der Betrachtung der Schöpfung ausgehend wird die Frage gestellt: „Was ist der Mensch?“ (V. 5), auf die in den darauffolgenden Versen die Antwort gegeben wird, dass jener von Gott „nur wenig geringer gemacht als Gott“ (V. 6) sei und „als Herrscher eingesetzt über das Werk deiner Hände“ (V. 7). Im Hintergrund steht hier (nach Norbert Lohfink) die Vorstellung einer Gottesstatue im Tempel, die etwas Abwesendes repräsentiert. Das Besondere ist, dass diese Repräsentanz nicht einer einzelnen Gruppe oder Person, etwa dem König, sondern allen Menschen in gleicher Weise zugesprochen wird.
In einer besonderen Beziehung zu Gott
Besonders faszinierend ist zudem das Staunen, das den ganzen Psalm durchzieht – das Staunen ob der Schöpfung und der Schöpfungswerke (V. 4), aber auch das Staunen ob des Menschen, der sich von Gott in diese Schöpfung hineingestellt und als „mit Herrlichkeit und Ehre gekrönt“ (V. 6), also gewissermaßen königlich, erkennt. Nicht zuletzt umfasst das Staunen auch den Schöpfer, wie es in der rahmenden Preisung Gottes und seines Namens (V. 2.10) zum Ausdruck kommt. Dieses Staunen birgt eine doppelte Stoßrichtung: einerseits mit Blick auf die Kleinheit des Menschen angesichts von Himmel, Mond und Gestirnen, die jedoch – anders als in der Umwelt Israels – eindeutig als Teil der Schöpfung und somit nicht selbst als göttlich angesehen werden, andererseits mit Blick auf die Stellung des Menschen. Dieser erhält von Gott her, der an ihn denkt und sich seiner annimmt, seine Auszeichnung, Größe und Würde, die sich vor allem darin zeigt, dass der Mensch als in einer besonderen Beziehung zu Gott stehend vorgestellt wird (was sich auch im dialogischen Geschehen des vorliegenden Gebetskontextes widerspiegelt).
Mehr frommer Wunsch als Wirklichkeit?
Freilich muss an dieser Stelle angesichts der vielen krisenhaften Erfahrungen unserer Zeit (Kriege, Ausbeutungen, Klimawandel etc.) kritisch eingewandt werden, dass diese Größe und Würde des Menschen – im Großen wie im Kleinen – nur allzu oft verletzt wird, sodass die Aussagen des Psalms eher als frommer Wunsch denn als Wirklichkeit erscheinen mögen (eine Erfahrung, die im Übrigen schon im Psalter im Rahmen der umliegenden (Klage-)Psalmen aufgegriffen wird). Wie oft bleibt von der Herrlichkeit und Ehre, von der in V. 6 gesprochen wird, in den Alltagserfahrungen von Menschen höchstens ein Zerrbild übrig? Wie oft wird das Herrschersein über die Schöpfung (V. 7) missverstanden? Wie oft wird erlebbar, dass Gott an den Menschen denkt und sich seiner annimmt? Die Bibel ist sich auch dieser Wirklichkeit des Menschen bewusst, seiner Schwächen und Verfehlungen (vgl. etwa Gen 3-4). Diese werden nicht verschwiegen, sondern ebenfalls ernst genommen. Sie kommen etwa im gebrochenen, entfremdeten Verhältnis des Menschen zu Gott, zum Mitmenschen, zur übrigen Schöpfung und auch zu sich selbst (vgl. Gen 4,14) zum Ausdruck. Der biblische Mensch nach dem Sündenfall ist durch Freiheit und Verantwortlichkeit gekennzeichnet, die ganz wesentlich an Gott rückgebunden sind, worauf auch der Psalmist hinweist. Insgesamt kommt die Vorstellung vom Menschen als relationales Wesen (das zu Gott und zum Mitmenschen in Beziehung steht/stehen soll) in den Blick – etwas, dessen wir uns oft dann erst schmerzlich bewusst werden, wenn es fehlt (vgl. Gen 4). Menschsein ist daher immer Menschsein mit und für andere.
Das Zentrum des Textes
Insbesondere die Formulierung in Form einer Frage in V. 5 („Was ist der Mensch, dass du an ihn denkst, des Menschen Kind, dass du dich seiner annimmst?“) – für mich das Zentrum dieses Textes – kann daher auch für uns eine Anfrage beinhalten, sich diese Frage selbst zu stellen und zu beantworten – vor allem auch hinsichtlich der Konsequenzen. Wenn der Mensch – jeder Mensch – „nur wenig geringer“ als Gott ist, was bedeutet das dann für den Umgang mit den Mitmenschen und für meine Theologie? Ist uns bewusst, dass wir immer schon ein bestimmtes Menschenbild vertreten, das uns antreibt und mit dem bestimmte und konkrete Konsequenzen einhergehen – sei es implizit oder explizit-bewusst? Und wie schlägt sich das im Handeln nieder? Wird die biblische Anthropologie als Eingangsportal, als Rahmen jeder theologischen Forschung ernstgenommen, auf deren Basis sich alles weitere entfaltet, dann darf sie nicht bloß eine Worthülse oder Phrase sein, sondern muss sich in vielfältigen Formen realisieren, um dem darin ergehenden Anspruch (der vor den an andere gerichteten Ansprüchen einer gegenüber der eigenen Person ist) gerecht zu werden.
Die Würde des Menschen im Blick behalten
Prinzipiell kann es daher nicht schaden, sich dieser Tatsache von Zeit zu Zeit in einem stillen Moment gewahr zu werden und auch an der biblischen Anthropologie Maß zu nehmen, um – falls nötig – Adaptierungen, Korrekturen vorzunehmen. Letztlich kann eine Reflexion auf das Wesen des Menschen also dazu dienen, die Würde des Menschen im Blick zu behalten und den Menschen mit einer entsprechenden Haltung und Grundeinstellung gegenüberzutreten. Im Einzelnen kann das beispielsweise bedeuten, in Situationen klar Stellung zu beziehen, wo die Würde des Menschen verdunkelt zu werden droht. Bezüglich meines Forschungsschwerpunkts, in dem ich mich mit Fragen von Werten und Wertebildung auseinandersetze, bedeutet dies zudem, im Rahmen von Wertebildungskontexten andere nicht einfach überreden zu wollen und Dinge, die mir gut und wichtig erscheinen, zu oktroyieren, sondern die Autonomie des Gegenübers zu respektieren. In diesem Sinne wünsche ich uns allen die Fähigkeit, wie im Psalm über die staunende Betrachtung der Welt und des Menschen immer tiefer in das Geheimnis der Schöpfung und der Beziehung Gottes und der Menschen eintauchen zu können und dem in unserer Theologie, aber auch im Alltag gerecht zu werden.
Patrick Rohs ist Projektmitarbeiter am Institut für Praktische Theologie und Mitglied des Forschungsverbunds Interdisziplinäre Werteforschung. Seine Dissertation behandelt das Themenfeld „Wertebildung und soziale Kohäsion“.
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