EU – wie hast du´s mit der Religion?


Im Zugehen auf die EU-Wahlen am 9. Juni 2024 stellen wir Beiträge zur Verfügung, die das Thema „Religion“ im Zusammenhang mit den Wahlen thematisieren. Der Kirchen- und Religionsrechtler Prof. Kowatsch (Wien) gibt einen Einblick in die Rechtslage im Hinblick auf das Thema Religion in den EU-Gesetzen.

Bis zum Überfall Russlands auf die Ukraine konnte man vergessen haben, dass das Projekt der Europäischen Integration untrennbar verbunden ist mit den für die Völker Europas traumatischen Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs. Nach der Vergemeinschaftung der kriegswichtigen Industrien für Kohle und Stahl (1951) wurde 1957 (zusammen mit der EURATOM) die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft EWG, später EG, gegründet. Diese ging in der seit dem Vertrag von Maastricht (1992) bestehenden EU auf. Die Integration erfolgte mehrdimensional. Immer mehr Politikfelder wurden im Lauf der Jahrzehnte vergemeinschaftet und bestehende Unionskompetenzen vertieft. In mehreren Erweiterungsschritten wuchs die Zahl der Mitgliedstaaten auf bis zu 27. Heute hat das Unionsrecht einen unmittelbaren oder mittelbaren Einfluss auf unzählige Bereiche. Bestimmende Gemeinsamkeit ist die Perspektive der Integration, welche sich auch auf Lebensbereiche auswirkt, die auf den ersten Blick wenig mit dem europäischen Binnenmarkt zu tun haben. Die Wahl zum Europäischen Parlament ist daher ein Anlass, die Frage zu stellen: Gibt es auch ein Religionsrecht der EU?

Prinzipiell gilt, dass die Organe der EU nur in jenen Kompetenzbereichen tätig werden dürfen, die ihnen die Mitgliedstaaten in den Verträgen übertragen haben (sog. „Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung“). Der EuGH nimmt darüber hinaus auch implizite Zuständigkeiten („implied powers“) an, sofern diese zur Erreichung der Ziele der Union notwendig sind. Die Staaten bleiben aber die „Herren der Verträge“.

Der Überhang wirtschaftlicher Themen in der EU

Betrachtet man die Zuständigkeiten der Union, zeigt sich ein deutlicher Überhang wirtschaftlicher Themen. Durch die Errichtung eines gemeinsamen Wirtschaftsraumes sollten Auseinandersetzungen kanalisiert werden und jeder Krieg in Zukunft verhindert werden. Nicht klassische Grundrechte, sondern Freiheiten, die den gemeinsamen Wirtschaftsraum stärken sollten (Freiheit des Dienstleistungsverkehrs, Freiheit des Kapitalverkehrs, Freiheit des Warenverkehrs und Freiheit des Personenverkehrs) standen daher ursprünglich im Zentrum des Europarechts. Allerdings war bereits die EWG indirekt an die Grundrechte der EMRK – und damit auch an die Religionsfreiheit (Art. 9 EMRK) – gebunden. Im Jahr 2000 wurde dann die Europäische Grundrechte-Charta (GCh) unterzeichnet. Es dauerte jedoch bis zum Vertrag von Lissabon 2009, bis diese ein Teil des Primärrechts geworden ist. Ein Beitritt der EU als solcher zur EMRK ist zwar im Vertrag von Lissabon vorgesehen, scheiterte bislang aber an Einwänden des EuGH.

Das Grundrecht der Religionsfreiheit

Art. 10 GCh bindet die Organe der EU und die Mitgliedstaaten bei der Durchführung von Unionsrecht an das Grundrecht der Religionsfreiheit. Dieses entspricht dem Art. 9 Abs. 1 EMRK. Eingriffe in dieses Recht rechtfertigen sich nach den Kriterien des Art. 9 Abs. 2 EMRK, da Grundrechte der Charta, die den Rechten der EMRK entsprechen, „die gleiche Bedeutung und Tragweite“ wie diese haben (Art. 52 Abs. 3 GCh).

Dass die EU nicht völlig religionsblind ist, zeigt sich andeutend auch in der Präambel zum EU-Vertrag. Ein ausdrücklicher Verweis auf das faktisch nicht zu leugnende christliche Erbe wurde zwar von interessierten Kreisen verhindert. Dieser taucht aber als Andeutung doch auf: Die EU wurde „schöpfend aus dem kulturellen, religiösen und humanistischen Erbe Europas, aus dem sich die unverletzlichen und unveräußerlichen Rechte des Menschen sowie Freiheit, Demokratie, Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit als universelle Werte entwickelt haben“, gegründet.

Der Vorrang nationaler Religions-Gesetzgebungen

Der wirtschaftliche Schwerpunkt der Integrationsgeschichte und die Tatsache, dass Staaten mit sehr unterschiedlichen kulturellen und religiösen Traditionen der EU angehören, erklärt, warum die EU über keine religionsrechtliche Kompetenz im Sinn einer Ordnung des Verhältnisses zwischen der EU, den Mitgliedstaaten und den Religionsgemeinschaften hat. Die Art und Weise, wie die einzelnen Staaten ihr Verhältnis zu den Religionsgemeinschaften ordnen, lässt sich nicht in ein gemeinsames europäisches System zwängen. Das nationale Religionsverfassungsrecht ist in einigen Staaten das Ergebnis einschneidender politischer Grundentscheidungen, in anderen wiederum die Frucht eines jahrhundertelangen Prozesses einander auch überlappender Etappen der Staatsgeschichte. In beiden Fällen ist es wie kaum ein anderes Rechtsgebiet ein Ausdruck der „nationalen Verfassungsidentität“, welche die EU gem. Art. 4 Abs. 2 EU-V zu achten verpflichtet ist.

Indirekte Folgen von EU-Rechtsnormen – Beispiel Datenschutz

Die fortschreitende Integration führte allerdings unvermeidlich dazu, dass Rechtsnormen erlassen wurden, die indirekt auch die Rechtsstellung von Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften in den Mitgliedstaaten betreffen. Das in den letzten Jahren immer dichter normierte Datenschutzrecht, um ein Beispiel zu nennen, könnte dazu führen, dass die Religionsgemeinschaften nicht mehr wissen dürften, wer ihnen tatsächlich angehört. Damit wäre der Zusammenbruch von etablierten Systemen der Kirchenfinanzierung verbunden. Nun kann man aus politischen und sogar aus theologischen Gründen die deutsche Kirchensteuer oder den österreichischen Kirchenbeitrag hinterfragen oder auch offen bekämpfen. Ein Systemwechsel der Kirchenfinanzierung ist allerdings nicht von der Kompetenz der EU im Bereich des Datenschutzrechts gedeckt.

Das Beispiel zeigt, dass an sich neutrale Normen des Unionsrechts unter Umständen erhebliche Auswirkungen auf das nationale Religionsrecht haben können. Daher wurde eine ursprünglich bereits an den Vertrag von Amsterdam (1997) angehängte Erklärung im Jahr 2009 in den Vertrag über die Arbeitsweise der EU (AEUV) und damit ins Primärrecht aufgenommen. Art. 17 AEUV sieht einen institutionalisierten Dialog zwischen den Unionsorganen und den Religionsgemeinschaften vor. Viel wichtiger aber ist die Verpflichtung des ersten Absatzes: „Die Union achtet den Status, den Kirchen und religiöse Vereinigungen oder Gemeinschaften in den Mitgliedstaaten nach deren Rechtsvorschriften genießen, und beeinträchtigt ihn nicht.“ Dasselbe ist auch für weltanschauliche Gemeinschaften angeordnet. Die EU-Organe sind demnach verpflichtet, bei allen Vorhaben, die die grundlegenden religionsrechtlichen Bestimmungen in den nationalen Rechtsordnungen verschieben könnten, eine Auswirkungsprognose zu treffen und gegebenenfalls geeignete Maßnahmen zu setzen.

Wirtschaftliche Logik der EU setzt nationales Religionsrecht unter Druck

In der Praxis erfolgt die Rücksichtnahme in Form von Ausnahmebestimmungen. Wie diese konkret formuliert sind und wie weit sie reichen, ist jeweils das Ergebnis schwieriger politischer Verhandlungen, zumal die Interessen von Religionsgemeinschaften und noch einmal mehr von Religions- und, wo solche verfassungsrechtlich anerkannt sind, Weltanschauungsgemeinschaften keineswegs immer harmonieren. Der Druck auf das nationale Religionsrecht wird zudem durch die Rechtsprechung des EuGH verstärkt. Der Gerichtshof folgte zumindest bislang einer ausgesprochen wirtschaftlichen Logik und zeigt keine sonderlich ausgeprägte Sensibilität für die Besonderheiten von „Religion“ gegenüber ökonomischen Zusammenhängen. Dass Art. 17 AUEV in der Rechtsprechung kaum eine Rolle spielt, zeigt zudem, dass diese eingefahrene Logik sogar gegen das Primärrecht der EU beibehalten wird. Im Extremfall könnte dies sogar dazu führen, dass einzelne nationale Verfassungsgerichte der Rechtsprechung des EuGH nicht mehr folgen.

Sensibler Umgang mit religiösen Rechtsfragen verwirklicht Subsidiarität

Trotz aller institutionellen und auch faktischen Schwächen der Union bleibt das aktive Bekenntnis zur europäischen Integration eine Bedingung für den Frieden in Europa. Da die Freiheit von Religionen und Weltanschauungen im Rahmen der Grundwerte der Verfassungen, „sie selbst“ sein zu dürfen, eine Voraussetzung des Pluralismus in der freiheitlichen Demokratie ist, ist ein sensibler Umgang der Union mit religiös konnotierten Rechtsfragen kein Zeichen mangelnder Integration, sondern eine Verwirklichung des Subsidiaritätsprinzips.

DDr. Andreas Kowatsch ist Universitätsprofessor für Kirchenrecht und Religionsrecht an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien.

Beitragsbild: privat

Veröffentlicht von Praktische Theologie

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