Leben aus dem Geist Gottes – in einer polarisierten Welt (Regina Polak)

Im Mittelpunkt des Pfingstfestes steht der „Heilige Geist“, der laut Apostelgeschichte Apg 2, 1-11 den Jüngern des Jesus von Nazareth am Pfingstsonntag geschenkt wurde. Dieses „Pfingstwunder“ ist der Geburtstag der Kirche. – Aber wer ist dieser „Geist“,  aus dem die Kirche bis heute lebt? Regina Polak überlegt, was das biblische Zeugnis über Geisterfahrungen  für eine polarisierte Welt bedeuten könnte.

Vor einiger Zeit hörte ich in einer Predigt zur Vorbereitung auf das Pfingstfest den Satz, dass „die Jünger vor dem Pfingstereignis den Geist noch nicht gehabt hätten“. Dieser Satz irritierte mich sehr. Kann man den „Heiligen Geist“ haben? Und ist nicht auch das Alte Testament reich an Hinweisen auf die רוח (ruah), den Geist Gottes?

Amivalenz von Geisterfahrungen im Alten Testament

Wie so oft, wenn man biblische Texte genauer liest, zeigt auch der exegetische Befund, dass eine eindeutige Definition der Erfahrung, die im Deutschen mit „Geist“ wiedergegeben wird, schwierig ist. Fast 400-mal lässt sich das Wort „ruah“ in der Hebräischen Bibel finden und spielt eine zentrale, aber äußerst vieldeutige, dynamische und schillernde Rolle. Sein konkreter Sinn erschließt sich immer erst im jeweiligen Kontext. Das Wort ruah kann dabei auf den Menschen wie auch auf Gott bezogen werden. Überdies wird der Geist negativ oder positiv beschrieben.

So kann z.B. ein „böser Geist“ über den Menschen kommen (1 Sam 16, 1 ); oder der „Geist des Verderbens“ (Jer 51, 1), der „Geist der Eifersucht“ (Num 5, 14.30), der „Lügengeist“ (1 Kön 22, 22) oder der „Geist des Tiefschlafs“ (Jes 20, 10) kann den Menschen befallen. „Geist“ kann also die seelisch-geistige Verfassung eines Menschen ebenso beschreiben wie seine guten oder bösen Absichten. Die biblischen Verfasser wissen, dass nicht jede Geisterfahrung gut und heilsam ist oder aus Gott kommt.

Wer sich im vergangenen Krisen-Jahr mit den gesellschaftlichen und globalen Verwerfungen und dem Handeln mancher Zeitgenoss/innen auseinandergesetzt oder die gesellschaftliche Stimmung gespürt hat, mag sich mitunter ebenfalls gefragt haben, ob die Menschheit von allen guten Geistern verlassen ist. Angst, Hass, Neid, Gier, Wut – ob in politischen Auseinandersetzungen, in den sozialen Medien oder manchmal auch in den eigenen vier Wänden: Es herrscht vielerorts kein guter Geist. Mitunter auch in der Kirche.

Der Geist tritt aber auch in positiver Weise in Erscheinung: als „Geist der Weisheit“ (Ex 28, 3; Dtn 34, 9), als „Geist des Rates und der Stärke“ (Jes 11, 2), als „Geist des Rechts“ (Jes 4, 4; Jes 28, 6) oder „Geist des Erbarmens“ (Sach 12, 10). Auch auf diese Geisterfahrungen konnte und kann man in der Pandemie-Krise stoßen – freilich zeigen sich diese Geistformen aktuell weitaus leiser und unaufdringlicher, u.a. dort, wo Menschen einander in der Krise beistehen und nach innovativen, differenzierten Antworten auf die Krise suchen.

Bemerkenswert ist auch, dass sich der Geist verändern kann. Er ist nicht statisch und kann sich, nach biblischem Zeugnis, vom Negativen zum Positiven wandeln. Der Geist kann ein „neuer Geist“ (Ez 11, 19; Ez 18, 31) werden. Wenn es um den guten Geist geht, dann wird im Alten Testament damit zumeist eine lebensförderliche Kraft, eine schöpferische Bewegung oder eine Energie beschrieben, die die Lebenskraft, den Mut von Menschen oder auch Gruppen stärkt. Der Geist Gottes ist in der Hebräischen Bibel eine Offenbarungsweise Gottes, die den Menschen zum Guten beseelen und beleben kann.

Generell zeigen die Texte des Alten Testaments eine hohe Sensibilität für die Ambivalenz von Geisterfahrungen und wissen um die Notwendigkeit der kritischen Prüfung. Nicht jeder Geist ist gut oder von Gott, es braucht eine Unterscheidung der Geister. In einer Gesellschaft, die wie die unsere von heftigen Emotionen, widerstreitenden Ideen und aufgeheizten Auseinandersetzungen geprägt ist, ist eine solche Unterscheidung wichtiger denn je. 

Der „Heilige Geist“  des christlichen Bekenntnisses

Immer wieder tritt auch im Neuen Testament der Geist Gottes in Erscheinung: Maria empfängt Jesus durch den Heiligen Geist (Mt 1, 18-20 par), Jesus empfängt ihn bei seiner Taufe (Mt 3, 13-17), in den Abschiedsreden Jesu des Johannesevangeliums wird er als „parakletos“ (Beistand) und Lehrer (Joh 14, 16) den Jüngern zugesagt. Er wohnt in den Christ/innen und diese können und sollen aus ihm leben (1 Kor 3, 16; Röm 8). Er schenkt Gaben (Röm 12, 1 Kor 12) und kann und soll Früchte bringen (Gal 5, 22).    

Auch wenn das Geistverständnis des Neuen Testamentes in der Tradition der Hebräischen Bibel steht: der „Heilige Geist“, von dem dann die dogmatischen Trinitätsaussagen der Kirche sprechen werden, ist nicht zur Gänze ident mit der ruah des Alten Testaments. Jene Textstellen im Alten Testament, die sich auf die ruah Gottes beziehen, haben erst im Rahmen einer langen Entwicklung zu jenen christlichen Aussagen geführt, die den Heiligen Geist als die dritte Person der Trinität verstehen. Aus christlicher Sicht ist der Heilige Geist eine Person. Er ist der Geist Jesu Christi, der diesen im Gläubigen gleichsam darstellt und die Gemeinschaft der Gläubigen zu einem Leib formt, die in ihm wandeln sollen (Gal 5, 16). Seine bleibende Gegenwart ist zugesagt: Der Heilige Geist ist beständiger und ansprechbarer Begleiter, die den Menschen immer in Christus zugewandte und ansprechbare Seite Gottes.

Zeitgenössische Relevanz

Trotz – oder gerade wegen – dieses komplexen biblischen und theologischen Befundes kann es anregend sein, nach der Gegenwartsrelevanz der vielfältigen Geisterfahrungen der Bibel zu fragen. Denn, so meine These: In unserer aktuell so schwierigen und aufgewühlten Zeit sind wir darauf angewiesen, den Geist Gottes wahrzunehmen, von anderen, „bösen Geistern“ zu unterscheiden, und uns von ihm begleiten und leiten zu lassen. Dass dies nicht ganz einfach ist, belegen die Texte der Heiligen Schrift. Dass es notwendig ist, scheinen mir die Zerrissenheit und Polarisierung unserer Gesellschaften nahezulegen, die sich quer durch Familien, Institutionen, Parteien, Regionen, Nationen, den Globus und auch die Kirchen ziehen. An drei biblischen Beispielen möchte ich zeigen, was uns die biblischen Geist-Erfahrungen lehren können.

Nüchtern bleiben

In den älteren Texten des Alten Testaments aus und vor der Königszeit Israels werden  Geisterfahrungen oft mit ekstatischen Zuständen in Verbindung gebracht. Der Geist kann dann z.B. charismatischen Führungspersonen oder Gruppen zu außerordentlicher Vitalität verhelfen und aus Notsituationen befreien. Er kann aber bei diesen und auch bei Propheten zu Formen von Trunkenheit, Verrücktheit und Wahn führen, denen die Texte sehr skeptisch begegnen.

Betrachtet man die emotional aufgeladenen Auseinandersetzungen, die Empörungsdiskurse, die Shitstorms in sozialen Medien und wütende Demonstrant/innen auf den Straßen, oder auch die international zu beobachtende Sehnsucht nach und Verführbarkeit durch charismatische Führungspersonen oder deren Verhalten, mahnt die Erinnerung an diese Texte zu Vorsicht, Skepsis und Kritik.

In der aktuellen Gemengelage und Stimmung – ob in Gesellschaft oder auch Kirche – ist die Versuchung groß, sich entweder völlig aus dem öffentlichen Raum zurückzuziehen oder aber sich auf eine der polarisierten Positionen zu schlagen, um sich der eigenen Zugehörigkeit zu vergewissern. Aber auch wenn es schwierig ist: Gerade in polarisierten Situationen kann der christliche Glaube wichtige Beiträge leisten. Weil er um die Gefahr „böser Geister“ weiß, kann er bei der Unterscheidung helfen. Er kann bei der Transformation von negativen Gefühlen und Stimmungen begleiten, ohne diese ausblenden zu müssen. Die Gewissheit um die Verbindung zum Heiligen Geist ermöglicht innere Distanzierung und kann den Druck minimieren, sich einseitig positionieren zu müssen und dadurch Polarisierungen noch zu verstärken. So wird es möglich, differenzierende Gedanken oder komplexere Lösungen ebenso einzubringen wie zwischen polarisierten Gruppen zu vermitteln und emotional wie verbal zu deeskalieren. Statt auf charismatische Führungspersonen zu setzen, ermutigt der Glaube zu selbständigem und vernünftigem Denken und aktiver Teilhabe in einer Gemeinschaft, in Gesellschaft oder Kirche. Einfach ist auch dies alles nicht, weil man leicht überhört, ignoriert oder gar zwischen die Fronten geraten kann. Aber die Gaben und Früchte, die der Heilige Geist schenkt, können helfen: Heilungskräfte, Geistunterscheidung, Erkenntnisvermittlung, Langmut und Geduld – und vor allem Nüchternheit.

In Krisenzeiten an den zugewandten Geist Gottes erinnern

Es scheint, als wäre gerade in Krisenzeiten die Berufung auf den Geist Gottes von besonderer Relevanz. So wird in den Texten aus der Zeit des Exils und nach dem Exil die Rede vom Geist intensiviert. Vor allem die Erinnerung an die Schöpfung der Welt durch Gott spielt dabei eine zentrale Rolle. Erinnert wird daran, dass der Mensch in ein größeres Ganzes, in die Schöpfung Gottes eingebettet ist und sein Leben vom Geist Gottes abhängt. So großartig die Leistungen des Menschen sind: es ist die Lebenskraft Gottes, sein Geist, der den Menschen und die Welt am Leben hält und ihm Leben und Zukunft schenkt. Erinnert wird auch daran, dass Gott der Erde und den Menschen liebevoll zugewandt ist. Es ist Gott, der Zukunft und Hoffnung schenkt.

Damit soll nun für die Krisenzeiten, in denen wir uns befinden, keiner Vertröstung das Wort geredet werden. Aber mit Blick auf unser Anthropozän – eine Epoche, in der sich viele Menschen bewusst sind, dass die globalen Krisen vielfach selbstverschuldet sind, und meinen, sich nur in einer angestrengten Nutzung aller ihnen zur Verfügung stehenden Möglichkeiten (Wissenschaft, Politik, Technik) selbst retten zu können und zu müssen – kann die Erinnerung an einen Gott, der Leben ermöglicht und Rettung und Befreiung zusagt, notwendig und hilfreich sein. Aus diesem Glauben leben kann entlasten: von Gefühlen der Überforderung, der Schuld und der Last, alles allein schaffen zu müssen.

Selbstverständlich soll das reiche Wissen der Menschheit genützt werden. Die unglaublichen Leistungen der Wissenschaften und auch der Politik, die uns in kürzester Zeit eine Impfung ermöglicht haben, sollten geschätzt werden. Aber die vielen Begleitkrisen und Kollateralschäden – u.a. psychische Erkrankungen, Zunahme von Armut, Gewalt und Menschenfeindlichkeiten, politische und ökonomische Krisen – zeigen auch, dass wir Menschen nicht so mächtig und autark sind, alle Probleme im Alleingang und in Perfektion lösen zu können. Aus dem Heiligen Geist leben, kann angesichts dessen Angst reduzieren und jenen Druck minimieren, von dem viele individuelle, soziale und politische Krisenbewältigungsstrategien geprägt sind. Zugleich können Denk- und Handlungsspielräume weiter werden, denn der Geist überschreitet Grenzen und weitet den Horizont. Der Trost und die Hoffnung, die der Glaube schenken kann, müssen dabei weder die Krisen ausblenden noch passiv auf das Schicksal warten lassen. Aber der Geist der Krisenbewältigung könnte anders sein: weniger angsterfüllt, weniger getrieben, weniger aggressiv – und offener für eine Zukunft, die nicht feststeht.

Menschen in ihrer Verschiedenheit zusammenbringen

Die zentrale Stelle des Pfingstfestes ( Apg 2, -11) lässt noch weitere Merkmale des Heiligen Geistes erkennen. Der Heilige Geist, der die versammelten Menschen zur Kirche werden lässt, bringt Menschen aus unterschiedlichsten Völkern zusammen und lässt sie alle die befreiende Botschaft des Evangeliums verstehen – und zwar jede und jeden in der je eigenen Sprache.

Dies ist bemerkenswert, denn Einheit wird in dieser Erzählung nicht durch Uniformität hergestellt. Die Botschaft wird nicht in einer einheitlichen Sprache verkündigt, sondern so, dass sie jede und jeder auf seine Weise verstehen kann. Dazu ermächtigt der Heilige Geist.

In einer polarisierten Gesellschaft braucht es dieses Ringen um Einheit. Denn sonst drohen Zerrissenheit, Gewalt und Zerstörung. WIE eine solche Einheit entsteht, wird in der Pfingsterzählung deutlich. Sie kann weder menschlich hergestellt noch autoritär verordnet werden. Sie wird geschenkt und verbindet Menschen. Ihr Entstehen erfüllt Herz und Geist der Menschen.

Für unsere Zeit birgt die Pfingsterzählung enormes Potential und erinnert an das Wesen und den Auftrag der Kirche. Es geht darum, in und mit der Gesellschaft in Pluralität leben zu lernen, ohne in einen kämpferischen Tribalismus zu verfallen, wo gleichsam alle gegen alle kämpfen. Der Einsatz gegen Polarisierung hebt nämlich die Tatsache der Pluralität nicht auf. Diese hat ihre Ursache nicht allein in der Zuwanderung oder der religiösen Pluralisierung, sondern in der Einzigartigkeit jedes einzelnen Menschen. Die Apostelgeschichte – wie auch die Bibel als solche – anerkennt diese Pluralität als Normalität der Schöpfung. Sie weiß aber auch, dass es einigender, verbindender und versöhnender Prozesse bedarf, damit die Vielfalt nicht in Beliebigkeit, Polarisierung und Gewalt mündet. Und sie erinnert daran, dass die Einheit unter Menschen letztlich von Gott begründet wird und Menschen immer wieder zugesagt sowie praktisch mitgestaltet werden muss.

Dies verpflichtet die Gläubigen, sich im Inneren wie in der Gesellschaft in die polarisierten und zerrissenen Lebenswelten einzumischen, in denen Pluralität als Bedrohung erlebt wird und es – noch – zu wenigen Menschen möglich ist, in Verschiedenheit friedlich zu leben. Diese Einmischung macht es zugleich nötig, sich auf die Vielfalt einzulassen und die Sprache der jeweils anderen zu lernen. Die christliche Botschaft von Friede und Versöhnung muss in viele Sprachen und Handlungen übersetzt werden. Die Art und Weise, wie sich Christen hier praktisch einbringen können, steht zugleich in der Nachfolge Christi. Damit verbindet sich eine spezifische Praxis, die auf Heilung, Befreiung und Versöhnung zielt und auf Einsatz von Macht und Gewalt verzichtet.

Dies ist eine schwierige und anspruchsvolle Aufgabe, die ohne Konflikte nicht zu erfüllen ist. Aber spaltendes, polarisierendes Verhalten, der Kampf gegen andere oder die gewaltvolle Durchsetzung uniformer Einheit sind ausgeschlossen.

Christinnen und Christen werden sich in einer tribaliserten Gesellschaft der Gegenwart dann oft zwischen allen Stühlen – kirchlichen Lagern, politischen Gruppen – vorfinden.  Aber auch der Ort des Jesus von Nazareth war einer im „Dazwischen“, zwischen den Interessensgruppen seiner Zeit. Das ist kein angenehmer Platz, es ist ein gefährlicher Platz, der von Scheitern bedroht ist und am Kreuz enden kann. Aber es ist der Platz einer Kirche, die ihren Ursprung im Heiligen Geist Gottes nicht vergisst. Und daran erinnert kommenden Sonntag das Pfingstfest, anlässlich dessen ich dem werten Leser, der werten Leserin den Segen Gottes wünsche.

Den biblischen Befund zum Alten Testament verdanke ich Helen Schüngel-Straumann: Geist (AT), in: https://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/19184/

Veröffentlicht von Praktische Theologie

Institut für Praktische Theologie Katholisch-Theologische Fakultät Universität Wien Schenkenstrasse 8-10 1010 Wien c/o Assoc.-Prof. Dr. Regina Polak, MAS (Admin)

2 Kommentare zu „Leben aus dem Geist Gottes – in einer polarisierten Welt (Regina Polak)

  1. Liebe Regina Polak,

    dein alter Linzer Kollege hat sich sehr über deinen Pfingstbeitrag „Leben aus dem Geist Gottes“ gefreut und sich von ihm für die Pfingstpredigt inspirieren lassen.

    Es hat auch gut getan, alte Erinnerungen an die Treffen der österr. und deutschsprachigen Pastoraltheolog*innen aufzufrischen.

    Sei mir herzlich aus Salzburg gegrüßt

    Peter Hofer

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    1. LIeber Peter Hofer, schön von Dir zu hören! Deine Rückmeldung freut mich sehr – und ja, lange ist es her, das waren meine Anfänge :-). Alles Liebe und möge der Pfingstgeist weiterwirken! Regina

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